: Andreas Wunn
: Brasilien für Insider Nahaufnahme eines Sehnsuchtslandes
: Heyne
: 9783641126285
: 1
: CHF 8.10
:
: Südamerika
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Brasilien für Anfänger, Insider und Liebhaber

Karneval und Kriminalität, Fußballzauber und Favelakriege, Sambapartys und Sozialproteste: Brasilien ist das Land der Gegensätze – auf der einen Seite die pure Lebensfreude, bunt, aufregend und sinnlich, auf der anderen unübersichtlich und im Umbruch. Andreas Wunn, Brasilien-Korrespondent des ZDF, reist in Millionenmetropolen und auf Dschungelpfaden, erlebt die 1000 Realitäten Brasiliens und beschreibt das Sehnsuchtsland der Superlative, das viel mehr zu bieten hat als die Summe seiner Klischees.

Andreas Wunn, Jahrgang 1975, ist der Brasilien-Korrespondent des ZDF und berichtet für den Sender aus ganz Südamerika. Er ist Autor zahlreicher TV-Dokumentationen für das ZDF, 3sat, Phoenix, zdf.info und arte. Wunn studierte Politikwissenschaften in Berlin und Tokio und lebte längere Zeit in den USA und Bolivien. 2003 begann er als außenpolitischer Reporter beim ZDF. Von 2005 bis 2007 moderierte er die Sendung „heute in Europa“ und vertretungsweise das „auslandsjournal“. Anschließend managte er als Chef vom Dienst der Chefredaktion das Informationsprogramm des Senders. Seit 2010 lebt Andreas Wunn in Rio de Janeiro und leitet dort das ZDF-Studio.

Vor Sonnenaufgang im Bus

Rosangela, ich schreibe ein Buchüber Brasilien.«

»Ich hoffe, du schreibst nur Gutes.«

»Na ja, nicht nur.«

»Hm.«

»Also, viel Gutes natürlich. Aber eben nicht nur.«

»Da kann man wohl nichts machen.«

Ich sitze neben Rosangela in der letzten Reihe des Busses. Dort wo sie immer Platz nimmt. Draußen ist noch tiefe Nacht, und es ist heiß. Drinnen perlen an den Scheiben Tausende winziger Wassertropfen wegen der voll aufgedrehten Klimaanlage. Die roten und gelben Lichter des Morgenverkehrs huschen nur in Schlieren an uns vorbei.

Es ist halb fünf in der Frühe und Rosangela schon seit einer knappen Stunde wach. Sie wohnt mit ihrer Familie in dem Ort Maricá in einem kleinen Haus mit zwei Mangobäumen und einer Kokospalme im Garten. Jeden Morgen nimmt sie den Bus nach Rio de Janeiro,70Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Guanabara-Bucht. Heute fahre ich mit ihr. Im vollen Bus ist es still, fast alle schlafen. Rosangela ist siebenundfünfzig, nicht gerade dünn, hat kurzes, leicht krauses, dunkles Haar, ein rundes Gesicht und manchmal ein verschmitztes Lächeln. Es wird zwei Stunden dauern, bis sie ihr Ziel erreicht hat. Bis sie angekommen ist an ihrem Arbeitsplatz – bei mir zu Hause.

Dieses Buch beginnt mit einem Selbstversuch. Mit einer Entdeckungsreise. Es ist eine Reise, die mich weit weg führt und dennochnur ein Kurztrip ist. Und es hat mehr als drei Jahre gedauert, bis ich sie angetreten habe. Seit mehr als drei Jahren lebe ich in Rio de Janeiro. Genauso lange arbeitet Rosangela bei mir im Haushalt. Zweimal in derWoche kommt sie in meine Wohnung im Stadtteil Leme, in der Südzonevon Rio de Janeiro an der Copacabana. Sie kümmert sich um meine Wäsche, hält die Wohnung sauber und kocht an diesen Tagen für mich. Ein Luxus, den ich mir in Deutschland so kaum leisten könnte, der aber in Brasilien für die Mittel- und Oberschicht Normalität bedeutet.

Jedes Mal, wenn Rosangela frühmorgens kommt, sehen wir uns nur kurz, kaum eine halbe Stunde vermutlich. Es bleibt nicht viel Zeit zum Reden. Ich frühstücke schnell, wir besprechen, was zu tun ist, dann fahre ich zur Arbeit insZDF-Studio Rio de Janeiro. Wenn ich abends nach Hause komme, ist Rosangela nicht mehr da. Siekommt gegen halb sieben und geht um halb drei. Käme und ginge sie später, würde sie morgens und nachmittags nicht jeweils zwei, sondern vielleicht drei Stunden im hoffnungslosen Verkehrschaos von Rio de Janeiro stecken. Manchmal begegnen wir uns tage- oder wochenlang nicht, weil ich auf Reisen in ganz Südamerika unterwegs bin. Rosangela sieht unterdessen in meiner Wohnung nach dem Rechten. Sie hat eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie ich lebe. Von ihr weiß ich dagegen so gut wienichts. Deshalb habe ich sie gefragt, ob ich sie auf ihrem Weg zur Arbeit einmal begleiten darf.

Der Bus rumpelt weiterüber die Schnellstraße, die an Favelas, den Armenvierteln, an Stundenhotels und heruntergekommenen Geschäften für Fensterglas, Türen und anderen Baubedarf vorbeiführt. Immer wenn der Fahrer einem Schlagloch nicht mehr ausweichen kann, bewegen sich die schlafenden Gestalten auf ihren Sitzen vor uns fast wie in Zeitlupe hin und her. Jeden Tag pendeln mehr als zwei Millionen Menschen aus der Peripherie in die reicheren Viertel Rio de Janeiros, um dort ihrer Arbeit nachzugehen.»Du musst kämpfen«, sagt mir Rosangela.»Wer nichts vom Leben will, bleibt sitzen und wartet.«

Rosangela hat schon als kleines Mädchen gelernt zu kämpfen, denn mit elf Jahren fing sie an zu arbeiten. Ihre Mutter, die weder lesen noch schreiben konnte, wusch per Hand die Wäsche für sechzehn wohlhabende Familien im Stadtteil Copacabana. Rosangela half, die schmutzige Kleidung in großen Stoffbeuteln abzuholen und die frisch gewaschenen Hemden wieder abzuliefern. Die zehn Kleiderbügel in jeder Hand wurden immer schwerer und schnitten in die Haut, je länger sieim Bus stand. Mehrmals die Woche legte sie so den langen Weg von ihrerFavela weit draußen, in der sie aufwuchs, bis in Rios Südzone zurück. Copacabana kam der kleinen Rosangela wie eine völlig andere Welt vor. Sie fand die Gegend wunderschön und liebte den Anblick des Strandes. Auf den Straßen sah sie Menschen in eleganter Kleidung.

»Woran erinnerst du dich noch, Rosangela?«

»Ich erinnere mich an den Geruch von gegrilltem Rindfleisch in Copacabana. Bei uns in der Favela gab es immer nur F