Einleitung
In der Not steckt die neue Chance
»Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.«
Martin Luther
Ihre traurige, zitternde Stimme am Telefon rührt mich. In ihrer großen Not vergisst sie sogar, ihren Namen zu nennen, und verhält sich so, als hätte sie ihre Oma angerufen:
»Bitte, bitte, bitte, Frau Prekop, helfen Sie mir! Ich kann nicht mehr!« Ein verzweifelter Hilferuf. Die Dringlichkeit ist unüberhörbar. Ich denke an die endlosen Wartezeiten bei guten Psychotherapeuten. Einen müsste ich ihr empfehlen. Die Frau steckt jedoch offensichtlich in einer akuten Notlage und braucht»Erste Hilfe«.
»Ja, ich spüre Ihre Verzweiflung und bin bereit, Ihnen zu helfen, sofern ich kann. Sagen sie mir Ihren Namen und Ihr Problem!«
»Beate Meier1 ist mein Name. Und das Problem hat meine ganze Familie. Bei uns kämpft jeder gegen jeden. Ich weiß nicht, warum. Es ist ein einziges Chaos. Nur noch zu meinem kleinen Sohn Jens habe ich eine Beziehung, die es wert ist,»Beziehung« genannt zu werden. Und ich weiß mir keinen Rat mehr.«
»Wann etwa begann der Krieg in der Familie?«
»Alles fing mit einer großen Liebe an: zwischen meinem Mann, Alex, und mir. Die erste Liebe. Nichts haben wir uns sehnlicher gewünscht als Kinder. Wir haben immer davon geträumt, wie wir sie gemeinsam erziehen und wie wir als Familie zusammenhalten werden. Als unsere beiden Kinder, Peter und Jens, dann da waren, haben wir uns riesig gefreut. Und nun ist alles auf den Kopf gestellt. Wir leben uns immer mehr auseinander. Wie es begann, weiß ich nicht. Die Luft wird immer dicker. Wir kommunizieren beinahe nur noch schreiend. Unsere Jungs vertragen sich nicht und sind nur noch handgreiflich, wenn sie zusammen sind. Mein Mann und ich schlagen uns zwar noch nicht, aber es fehlt nicht mehr viel… Das wäre dann der letzte Tropfen, der das Fass zumÜberlaufen bringen würde. Das wäre das Ende unserer Beziehung. Wir verletzen uns unentwegt mit Worten. Denälteren Sohn Peter muss ich hin und wieder schlagen, wenn er seinen kleinen Bruder angreift: Jens, der jüngere, ist erst fünf Jahre alt und kann sich gegen den achtjährigen Bruder noch nicht wehren.«
»Was sagt ihr Mann dazu?«
»Er redet mit mir fast nicht mehr. Nur noch das Notwendigste. Auch hört er mir nicht richtig zu, wenn ich ihm Aufträge für den Tag gebe– zum Beispiel, wenn ich ihm sage, was er einkaufen oder reparieren soll. Und wenn ich ihn dann frage, was ich zu ihm gesagt habe, weigert er sich, es zu wiederholen. Abends muss ich immer wieder feststellen, dass er die eine oder andere Aufgabe nicht oder nur teilweise erledigt hat. Und er ist mir dann auch noch böse, so als wäre ich die Schuldige. Statt mit mir zu reden, zieht er sich in seine Werkstatt zurück; dort hat er auch einen Fernseher.«
»Schlaft ihr noch zusammen?«
»Ganz selten. Fast nie. Seit Jens auf die Welt kam, schläft mein Mann im Gästezimmer. Das war eine vernünftige Lösung, weil Jens ganze Nächte hindurch geschrien hat, und Alex es sich nicht erlauben konnte, unausgeschlafen zur Arbeit zu gehen– er hat einen anstrengenden Job in einer Bank. Und ich war so k.o., dass ich keine Kraft mehr für Zärtlichkeiten oder Sex hatte.«
»In der Nacht also ist jeder in seinem Zimmer? Die Kinder auch?«
»Ja, natürlich. Die beiden kann man nicht in einem Zimmer unterbringen, sonst bricht gleich wieder der Bruderkrieg aus. Der Angreifer ist immer Peter. Die Situationen, in denen Peter zu Jens freundlich war, lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen.«
»In der Nacht ist jeder für sich allein. Und tagsüber? Wann trifft sich ihre Familie tagsüber?«
»Täglich zum Mittagessen. Bis auf meinen Mann, der in der Stadt arbeitet und dort isst. Von einer gemütlichen Stimmung kann aber keine Rede sein. Die Jungs verbreiten auch am Mittagstisch Unruhe. Nach dem Essen schicke ich jeden in sein Zimmer. Wenn jeder vor seinem Computer hockt, wird es ruhig. Dreimal pro Woche fahre ich Peter nachmittags zum Fußballtraining und zum Geigenunterricht. Auf gemeinsame Ausflüge oder auf einen gemeinsamen Urlaub haben wir in der letzten Zeit verzichtet. Die Kinder werden in den Ferien von den Großelternübernommen. Und ehrlich gesagt: Ohne uns geht es ihnen besser.«
»Ich verstehe jetzt, warum Sie sich so dringend Hilfe wünschen: Ihre Familie ist ernsthaft gefährdet– die Weichen sind gestellt. Jeder von euch kann und muss zur Ruhe kommen– das ist möglich, aber Sie brauchen Hilfe: entweder eine Hilfe zur Trennung oder eine zur Erneuerung der Liebe. Die zweite Alternative finde ich besser. Doch: Was wollen Sie? Lieben Sie Ihren Mann noch? Gibt es