Zeit der Natur– Natur der Zeit
Im Frühtau zu Berge…
Sie existierte einmal, die Zeit, als die Zeit noch Zeit hatte. Es war die Zeit, als die Menschen ohne Uhr lebten und die Zeit noch keine Mangelware war. Zeitdruck war annähernd unbekannt, Klagenüber Zeitkonflikte und Zeitnöte ebenso, und keinem Menschen kam es in den Sinn, einen Gesprächspartner mir nichts, dir nichts auf der Straße mit der Ausrede stehen zu lassen:»Tut mir leid, keine Zeit!« Das Leben zu dieser Zeit hat wenig mit der Welt- und der Zeitanschauung und genauso wenig mit der Art des Umgangs mit Zeit zu tun, wie wir sie heute für selbstverständlich halten. Auch gibt es aus damaliger Zeit keine Berichteüberähnliche Sehnsüchte wie sie heute kultiviert werden, um sich der Hast des Alltags für einige Zeit zu entziehen.
Dieser Zeit vor dem Zeitdruck und vor der Erfindung und der Verbreitung des Zeitmanagements geben wir den Namen»Vormoderne«.
Das war zugleich jene Epoche, in der man sich die Erde als Scheibe und als Mittelpunkt des Universums vorstellte. Zu dieser Zeit starben die weitaus meisten Menschen an dem Ort, an dem sie auch geboren waren. Es war die Zeit, als man beim ersten Sonnenstrahl das Bett verließ und sich mit dem letzten wieder in die Federn kuschelte. Die Menschen waren sesshaft, blieben am Ort und machten ihr Testament, wenn sie sich, was nur sehr selten vorkam, auf Reisen begaben. Selbst Goethe, ein Bewohner der zu seiner Zeit längst modern gewordenen Welt, setzte sich vor seiner als Reise getarnten Flucht nach Italien noch hin und regelte seinen letzten Willen.»Die Welt«, so eine lange Zeit gebräuchliche Redensart aus der heute längst nicht mehr randständigen Oberpfalz,»ist groß, und hinter Straubing soll’s noch weitergehen.« Heute weiß man, dass diese vormoderne Vermutung nicht ganz unberechtigt war. Das Risiko, sich zu weit von zu Hause zu entfernen, um– unversehens am Ende der Welt angekommen– in die Tiefe zu stürzen, wollte man auch aus Gründen der Gottesfürchtigkeit nicht austesten. Darauf zielt auch der Hinweis Dantes in seinerGöttlichen Komödie, dass die Säulen des Herakles die Meerenge von Gibraltar in erster Linie deshalb bewachen,»damit nicht weiter sich der Mensch begebe«.
Kennzeichen der hier»Vormoderne« genannten Epoche ist die enge Verbindung des gesamten Lebens– insbesondere auch der Arbeit– mit den periodischen Abläufen des Kosmos und der Natur. Man war in der Vormoderne in der Zeit zu Hause. Was wir heute»Zeitbewusstsein« nennen, folgte den zyklischen Wiederholungen der Natur, speziell der Jahreszeiten, und den Erscheinungen und regelmäßigen Abläufen am Himmelszelt. Das galt in erster Linie für die bäuerliche Arbeit, von der dieüberragende Mehrheit der Bevölkerung damals lebte. Zeit und Raum wurden stets qualitativ und nur ganz selten quantitativ betrachtet. Das Werden und Vergehen offenbarte sich als Rhythmus, in dem jede Phase ihren eigenen handlungsorientierenden Bedeutungscharakter hatte– einer Note in einer Melodie vergleichbar. Zuvörderst waren es die Rhythmen der Natur und die in Traditionen und Bräuchen verankerten sozialen Ereignisse, Feste und Feiern, an denen die vormodernen Menschen und die sozialen Gemeinschaften ihr Tun und Lassen ausrichteten und die ihnen als Maß für die Festlegung von Zeiträumen und Perioden dienten. In ihnen sehen Zeitforscher heute die einflussreichsten»Zeitgeber« des vormodernen Lebens. Das Zeitbewusstsein stand dabei in engem Zusammenhang mit sicht- und ablesbaren Himmelserscheinungen, in südlichen Ländern mit dem Wechsel von Regen- und Trockenzeiten, dem Umlauf der Erde um die Sonne und den Phasen und Rhythmen des tierischen und pflanzlichen Wachstums. Anhaltspunkte für die Ordnung des Vergänglichen suchte man an dem sichtbaren Verlauf der Gestirne, an der Wanderung des Schattens, den Veränderungen des Wetters, den Rhythmen der Gezeiten, dem Wachstum der Pflanzen und der Abfolge der menschlichen Lebensphasen. Die Menschen lebten in der Natur und mit der Natur und ließen sich vom Echo der Naturereignisse in ihrem Tun und Lassen lenken. Sie gingen mit den Hühnern schlafen und ließen sich vom frühmorgendlichen Hahnenschrei wieder aus dem Bett vertreiben. Rhythmen und Zyklen, vielerorts auch durch Glockensignale hörbar gemacht, organisierten nicht nur den Alltag, sondern auch die Zeitwahrnehmung der Menschen sowie die Einschätzung, die Beschreibungen und die Erklärungen zeitlicher Abläufe. Selbst größere Siedlungsgemeinschaften kamen, was heutzutage schwer vorstellbar ist, in der Vormoderne ohne abstrahierende Zeitmessung und ohne Stundeneinteilung aus.
Der vormoderne Mensch redete nichtüber»Zeit«. Warum auch sollte er das tun? Er redeteübers Wetter und dessen Wandel. Zeit war das Wetter, wie sich das ja bis heute in den romanischen Sprachen in dem Sachverhalt widerspiegelt, dass dort»Zeit« und»Wetter« ein und derselbe Begriff sind. Auch heute reden die Menschen in Lebenslagen, in denen sie sich vom Zeitdruck entlastet fühlen,