Mystik im Mittelalter–
aus der Gegenwart betrachtet
Im Zusammenhang mit Religiosität wird oft von mystischen Erfahrungen gesprochen. Was leistet eigentlich die Mystik für unseren Glauben?
Der Witz ist gerade, dass sie nichts leisten muss. Es geht in der Mystik unter anderem um dasÜben in Gelassenheit– das zentrale Wort von Meister Eckhart– und diese Gelassenheit besteht darin, sämtliche Zielvorstellungen und Absichten aufzugeben, damit man aus einer möglichst großen Spontaneität heraus leben kann, um dann in der dadurch gewonnenen Freiheit im richtigen Augenblick das Richtige zu tun.
Das klingt abstrakt. Und es kursieren ja auch viele Vorstellungen von Mystik als einer abgehobenen religiösen»Spezialdisziplin«.
Wer Mystik als einen Lebensbereich versteht, der im Gegensatz zum aktiven Leben steht, der hat eine vollkommen falsche Vorstellung, weil die mystische Haltung gerade die Versöhnung von Aktion und Kontemplation anstrebt. Der Mensch soll aus einer ganz starken inneren Konzentration heraus in christlicher Nächstenliebe sein Leben tatkräftig gestalten.
Nun sind die meisten theologischen Strömungen Antworten auf Herausforderungen ihrer Zeit. Worin bestand die Herausforderung des 14. Jahrhunderts?
Es ist in einem ganz extremen Sinn eine Zeit der Aufbrüche. Es herrscht Chaos im kirchlichen Bereich und auch in der politischen Landschaft. Es gibt laufend Gegenpäpste, der Papst zieht ins Exil nach Avignon. Eine eigene Stadtkultur entwickelt sich, im sozialen Bereich entstehen ganz neue Berufe. Dann die Pestseuchen in den 1340er Jahren. Und nicht zuletzt Extremisten wie die Geißler. Das 14. Jahrhundert ist zudem eine Zeit der Laien, in der diese sich zum Teil sehr prononciert gegenüber der Hierarchieäußern und ihr Mitspracherecht einfordern, und zwar– was für die Mystik ganz wichtig wird– in einer Sprache, die nicht kirchlich geprägt ist, sondern in der Sprache der Laien, in der Volkssprache.
Das klingt nach ungeheurer Dynamik. Wurde die Kirche von dieser Dynamik mitgerissen?
Die Kirche musste sich in Neuland vorwagen. Und sie tat es vor allem durch die Bettelorden, die Franziskaner, die Dominikaner, die Augustiner und die Karmeliter. Diese gingen dorthin, wo– ganz nüchtern betrachtet– am meisten gesündigt wurde. Die Dominikaner haben praktisch soziologische Erhebungen durchgeführt, um diese Orte zu bestimmen. Schließlich sind sie mitten in den Städten gelandet und haben dort ihre kleinen Klöster gegründet. Von dort aus haben sie die großen Bedürfnisse ihrer Zeit aufgenommen und ein völlig neues spirituelles Programm entwickelt.
Und was war daran so neu?
Ein Christ definiert sich für sie dadurch, dass er gleichzeitig kontemplativ und aktiv ist– nach innen orientiert und der Welt zugewandt– ebenso im Gebet versunken wie im Alltag wirkend. Diesen Alltag nehmen die Bettelorden sehr ernst und gestalten ihn auch mit. Sie sind beispielsweise die ersten, die mit Uhren das Alltagsleben strukturieren.
Die Kontemplation, die geistige Beschäftigung mit dem Glauben, war bis dahin ein Privileg der reichen Leute und der Mönche. Nun werden dank den Bettelorden auch die einfachen Leute kontemplativ. Und vor allem die Frauen melden sich zu Wort. Die Bewegung der Beginen sorgt für einen sozial wie spirituell vollkommen neuen Aufbruch in der Kirche. Sie leben ohne Klausur, also mitten in der Stadtkultur, in kleinen Gemeinschaften. Damit gehören sie sowohl spirituell zur Avantgarde, wie sie auch wirtschaftlich und sozial bahnbrechend wirken.
Diese neue Form des geistlichen Lebens inmitten einer lauten, sehr weltlichen Stadt zu entwickeln, ist bestimmt nicht leicht.
Hier herrscht tatsächlich eine Spannung, die sich im Leben von He