01. KAPITEL
SERENAS IRRENANSTALT
Immer, wenn meine Freundin Zoey mit knurrender Stimme gedroht hatte, Acid, oder Alex, wie der Rockstar in Wirklichkeit hieß, töten zu wollen, konnte ich nur den Kopf schütteln.
Warum hatte sie sich so dumm aufgeführt? Jeder Blinde hätte sehen können, dass die beiden zusammengehörten.
Nein, ichübertreibe damit nicht!
Alex war ein typischer Aufreißer und notorischer Playboy gewesen, bis sich Zoey mit ihrer Scharfzüngigkeit und einer schallenden Ohrfeige in sein Herz gestohlen hatte. In dem Moment verliebte sich der gut aussehende Bad Boy hoffnungslos in meine Freundin und schenkte ihr von da an seine volle Aufmerksamkeit.
Zoey, die von uns im GeheimenEiserne Jungfrau genannt worden war und den Titel redlich verdient hatte, verlor nach und nach ihre Unschuld und ebenso ihr Herz an ihn.
Zu unsererÜberraschung besaß sie echt eine Hammerstimme. Alex hatte ihr gezeigt, wo sie wirklich hingehörte: mit ihm an ihrer Seite auf eine Bühne, hinter ein Mikrofon. Und natürlich gehörten wir drei Mädels als Fans hinter der Absperrung dazu.
Beziehungen hin oder her, wir vier klebten immer noch wie Pech und Schwefel, wie Nutella auf Brot und wie ich bei einem Schlussverkauf am Schaufenster zusammen.
Nun waren die beiden also ein Paar und Zoey hatte aufgehört, Alex wegen jeder Kleinigkeit anzuknurren und Drohungen auszusprechen. Zumindest meistens hielt sie sich zurück.
Doch ausgerechnet jetzt konnte ich ihre Mordabsichten besser verstehen, als mir lieb war.
Ich war keins dieser Mädels, die gleich auf andere Mädchen oder Jungs losgingen, kratzten, bissen oder richtige Schläge austeilten, nur weil sie komisch von der Seite angestarrt oder sonst irgendwie provoziert wurden. Glaubt mir, von mir wäre sonst schon die halbe Weltbevölkerung ausgerottet worden. Ich hatte noch nie jemanden körperlich verletzt und hatte es auch nicht vor. Ein blaues Auge, eine gebrochene Nase oder gar eine aufgeplatzte Lippe würden schon dafür sorgen, dass mir sofort schlecht werden und ich den nächsten Busch mit meinem Essen verschönern würde. Ich verabscheute eigentlich jede Art von Gewalt…, außer, es handelte sich um Horrorfilme. Da ging das mittlerweile zum Glück in Ordnung. Meine andere Freundin Nell liebte nämlich Horrorfilme und führte uns ihre Favoriten immer vor. Ich war so weit abgehärtet, dass mir nur noch ein bisschen schlecht wurde und ich nur die halbe Nacht nicht mehr schlafen konnte. Ab und zu bekam ich noch Alpträume.
Ich verabscheute Gewalt nicht nur, weil sie meine aufwendig gestalteten Nägel in Mitleidenschaft ziehen konnte und weil mir beim Anblick von echtem Blut schlecht wurde, sondern auch, weil ich in einem ehrlichen Kampf sogar einem Plüschtier unterliegen würde. Ich war eben das typische Fluchttier.
Außerdem verlor ich allein schon jeden Samstag den Kampf gegen den Wahnsinn.
Für mich und meine ohnehin angeknackste Psyche wäre es besser gewesen, mich für immer von meinem Exfreund Simon fernzuhalten, stattdessen fuhr ich in letzter Zeit mit meinen Freundinnen jedes Wochenende insPulse, ein Szeneladen, in dem Alex' Band spielte. Jeden Samstag hoffte ich darauf, dass irgendetwas, seien es nun fliegende Kühe oder herabfallende Flugzeugtoiletten, Simon erschlagen und mir Frieden schenken würden. Doch immer wieder stellte sich heraus, dass sich mein Ex bester Gesundheit erfreute.
Blöde Sache.
»There was this boy who tore my heart in two«, schallte es aus meinen Kopfhörern, während ich gedankenverloren aus dem Busfenster schaute. Seit Simon aufgetaucht war, war ich wieder abhängig von meinem MP3-Player und lauter Musik-Dröhnung geworden. Na ja, sagen wirnoch abhängiger als vorher.»I had to lay him eight feet underground.«
Ich blickte weiterhin aus dem Fenster und beobachtete, wie Licht um Licht an uns vorbeirauschte, während ich mirGoing Down von der BandThe Pretty Reckless anhörte. Zoey hatte mir eine Anti-Serenas-Aggressions-Playlist zusammengestellt, die mir tatsächlich ein klein wenigüber die angestauten Gefühle in meinem Inneren hinweghalf.
»Serena?« Plötzlich fuchtelte Nell mit einer Hand vor meinem Gesicht herum.»Nell an Serena. Gibt es noch Leben in deinem Gehirn?«
»Hm?« Ich blinzelte ein paar Mal verwirrt.»Was ist denn los?«
Nell hatte ihr Kinn auf das Kopfpolster des Busses gebettet und sah mich mit besorgtem Gesichtsausdruck an. Das Licht im Inneren beleuchtete ihre ganzen bunten Strähnen, unter denen man ihre natürlichen dunkelbraunen Haare fast nicht mehr erkennen konnte.
»Ich dachte nur, dass du vielleicht in ein Koma gefallen bist, weil du mal nicht ununterbrochen davon redest, wie du Snake einen langsamen und schmerzvollen Tod bereiten wirst.«
»Ach so…«
Die Verrücktheit meiner drei besten Freundinnen und mir steigerte sich von der ersten bis zur letzten: Da war zunächst Violet, eigentlich Samantha, die sich seit Jahren die Haare hellviolett färbte und eine Vorliebe für Liebesromane aller Art und verschiedenste Kalorienbomben hatte, trotzdem aber nur selten ein Gramm zunahm. Außerdem besaß sie einen ausgeprägten Sinn für Empathie und war meineallerbeste Freundin. Und, das wusste fast keiner, sie war früher ein kleines musikalisches Wunderkind gewesen. Sie war wie ein violetter Mozart, der kein Klavier mehr spielte, sondern lieber Mozartkugeln verdrückte. Sie lackierte sich gerade mit herausgestreckter Zunge und konzentriertem Gesichtsausdruck die Nägel dunkellila– und das, obwohl sie ihre kniehohen Strümpfe und Stiefel wegen des kalten Wetters sowieso wieder anziehen musste.Über ihre Lieblingsfarbe muss ich wohl kein Wort verlieren, oder?
Dann kam Nell, mit bunten Strähnen und ihrem selbstgeschriebenen Büchleinüber Jungs und Survival-Tipps für alle Lebenslagen. Wie schon erwähnt, sie war eine Horrorfilm-Liebhaberin, aber auch ein Serienjunkie. Sie konnte aus dem Stegreif sagen, wer mit wem und wie lange eine Beziehung in den SerienOne Tree Hill oderGossip Girl geführt hatte oder wer beiPretty Little Liars wem das Leben warum zur Hölle machte.