Auch wenn man nicht die leicht reduktionistische, aber tendenziell triftige These vertritt, dass in der Pop-Musik – im Gegensatz zu früheren Kulturindustrien – potenziell jeder Rezipient ein Produzent sein könnte oder gar ist, eines ist sicher: Vor dem im vorangegangenen Abschnitt erwähnten Spiegel haben sie alle gestanden. Die narzisstische Pose, die vereinzelt erst zu Beginn der Pubertät und während deren krisenhaften Verlaufes dann immer öfter vor dem Spiegel entwickelt wird, bleibt normalerweise flüchtig. In Verbindung mit Sound, nicht dem fröhlich geträllerten Melodiechen, sondern dem bestimmten, definierten Sound einer konkreten Aufnahme, deren Abspielen oder Memorieren sich gegen keine Wiederholung sperrt und für jede Wiederholung des narzisstischen Rituals zur Verfügung steht, wird aus der flüchtigen Pose ein stabiles Programm des Selbst. Nicht immer, aber sehr oft übersetzt es den Sound bei der Fixierung der Pose in die Anrufung, selbst diese oder ähnliche Sounds herzustellen – als wieder mal eine Idee der Objektivierung, der Beherrschung, der Verfügung über diese herrlichen, fragilen Momente voller Potenzialität.
Man lernt als zukünftiger Pop-Musiker sicher eine Menge vor dem Spiegel, aber nicht so sehr die Techniken der Selbst-Präsentation und der Performance. Über diesen Aspekt der Pop-Musik-Produktion reden wir mehr in dem dafür zuständigen Kapitel. Man lernt aber, wie man sich selbst in Bezug zur Musik einsortieren kann: als Metonymie, nicht als Metapher. Die herkömmliche Interpretation der Spiegel-Szene ist ja: Der junge Mensch »identifiziert« sich mit dem Interpreten oder gar dem lyrischen Ich des gehörten oder inwendig memorierten Songs und führt eine expressive Szene vor dem Spiegel auf. Er spielt den Song und will seinwie das von ihm Ausgesprochene. Auch diese Szene mag es geben, sie wird vor allem in der Phase der Pop-Musik wichtig gewesen sein, als Sounds sehr oft als Indizes bestimmter Biografien, literarischer Stoffe etc. konventionalisiert waren, also in der Zeit der Singer / Songwriter. Für künftige Pop-Musiker mag aber noch etwas anderes wichtig gewesen sein – die Konstruktion: Ichund der Sound. Ichund ein bestimmter Sound, Ichund verschiedene bestimmte Sounds.
Ausdrucksästhetik ist immer bestimmt von einem hohen Risiko, dem Einsatz des Persönlichen. Darin ist sie entweder kulturindustrieller Kitsch oder avantgardistische Romantik, darin womöglich auch unter bestimmten Bedingungen vertretbar. Eine metonymische Verbindung zwischen dem unverwechselbaren Ich und einer anderen, aber austauschbaren unverwechselbaren Einheit, einem Objekt, einem Zeichen, einem menschlichen Partner, ist möglicherweise die interessantere Konstruktion im Zusammenhang der Produktion von Pop-Musik. Die Wette der klassischen Moderne auf den Zusammenhang von Autor und Werk und auf dessen Verantwortung bewahrt zwar vor Korruption, aber ganz unabhängig von ihren möglichen, wenn auch nicht zwingenden Schwächen – Heroismus, Exzeptionalismus, Genie-Kult – schließt sie psychologisch andere Produktionsformen aus: Zusammenarbeit kennt sie allenfalls in der Arbeitsteilung mit entsprechender Funktionsdifferenzierung und Hierarchie, die entsprechenden Gegenmodelle Combo und Band sind aus der Expressionsposition wieder nur hierarchisch vorstellbar. Im metonymischen Modell – geboren aus der Konstellation »Spiegelbild und ein Sound« und nicht »Spiegelbild wie ein Sound« – steht dagegen künstlerische Promiskuität nicht im Widerspruch zum Narzissmus. Meine Einmaligkeit und mein Genuss an ihr ist nicht verhandelbar, aber er kommt zur Welt nicht durch einen von mir verantworteten Ausdruck, sondern durch ein Verhältnis zu ähnlich konstruierten anderen, sei es temporär wie bei der Combo im Jazz oder vom Selbstverständnis her auf ewig gestellt wie bei