: Renate Dorrestein
: Herz aus Stein Roman
: C.Bertelsmann Verlag
: 9783641135324
: 1
: CHF 3.60
:
: Erzählende Literatur
: German
Suggestiv, psychologisch dicht und voller Spannung

Ellen ist siebenunddreißig und schwanger, als sie kurz entschlossen das leer stehende Haus ihrer Eltern kauft. Damit tastet sie sich zum ersten Mal an die Bruchstücke ihrer schmerzhaften Kindheitserinnerungen heran. Anhand eines Fotoalbums versucht sie zu verstehen, wie der so glückliche Familienalltag in einer Tragödie enden konnte. Drei Geschwister und Ellens Eltern wurden dabei getötet. Warum hat gerade sie überlebt? Und kann es hinter der tiefen Trauer und Verzweiflung irgendwann eine Form von Vergebung geben?

Suggestiv, psychologisch dicht und voller Spannung erzählt Renate Dorrestein von einer Frau, die nach langer Zeit die Kraft findet, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen.

Renate Dorrestein, geboren 1954 in Amsterdam, wuchs in einer römisch-katholischen Familie auf. Ihre Jugend sei recht glücklich gewesen, sagt sie - das habe jedoch weniger an einer besonders harmonischen Familienatmosphäre als vielmehr an ihrer eigenen Fantasie gelegen, mit der sie ihrem Leben Farbe verlieh. Schon früh stand ihr Traum fest: Schriftstellerin werden. Heute ist die ehemalige Journalistin eine der holländischen Starautorinnen. Für ihre Romane, die u.a. sehr erfolgreich in Amerika, Großbritannien, Italien, Spanien, Finnland, Schweden und Frankreich erscheinen, wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr bei C.Bertelsmann „Alles voller Hoffnung“.

Studienzeit Frits, Herbst 1956 oder 1957


Wir waren schon vier Kinder, als in einer ungewöhnlich kalten Sommernacht Ida geboren wurde. Der fast volle Mond schien so hell, dass wir um zwei Uhr noch die Sommersprossen auf unseren Nasen zählen konnten. Fest entschlossen, wach zu bleiben, bis wir den ersten Schrei des neuen Babys hörten, hatten wir uns im Mansardenzimmer mit Chips und Cola eingedeckt und unsere wärmsten Flanellpyjamas angezogen.

Ich hatte es mir mit einem Stapel Kissen bei Kester auf dem Bett bequem gemacht. Um die Zeit totzuschlagen, lasen er und ich gemeinsam einen Batman-Comic. Wenn ich umblättern sollte, gab er mir einen sanften Rippenstoß. Unsere Schwester Billie saß auf ihrem Stammplatz vor dem Spiegel, der neben dem Kleiderschrank hing, und schnitt mit einer Nagelschere konzentriert die gespaltenen Spitzen aus ihren langen schwarzen Haaren. Und Carlos stand vor Aufregung in seinem Gitterbett und sang, schlaftrunken, mitüber der runtergerutschten Schlafwindel vorgewölbtem Bäuchlein. Wir nannten ihn Carlos, weil er als Baby haargenau so ausgesehen hatte wie Prinz Charles, diese Bohnenstange aus England.

Es war gegen Ende der Sommerferien, das weiß ich noch genau. Jeden Abend hatte man dicke, hartnäckige Zecken zwischen den Zehen, die man, wie Billie sagte, gegen den Uhrzeigersinn rausdrehen musste, weil man sonst die Lyme-Krankheit bekam. Wir hatten an dem Tag Heidelbeeren gepflückt, unsere Zähne waren noch ganz blau davon. Nur Kester hatte seine geputzt. Mein Bruder kämpfte nämlich gerade verbissen gegen den Schmutz der Welt. Er wusch sich jeden Tag die Achseln und das Gesicht, hörte aber trotzdem nicht auf zu stinken und sah immer aus wie eine schmuddelige alte Zeitung. Um ihm zu zeigen, dass mir das nichts ausmachte, schmiegte ich mich beim Lesen hin und wieder ein wenig an ihn.

Er saß im Schneidersitz auf seiner roten Tagesdecke, die Füße unter den Beinen versteckt. Seit kurzem hatte er nämlich borstige schwarze Haare auf den Zehen, für die er sich zu Tode schämte. Er wartete nicht ab, wie Batman ausging, sondern schnappte sich Billies Feile vom Fußboden und stocherte damit unter seinen Fingernägeln herum.

Unsere vier Betten standen jeweils an einer Wand. So hatte jeder sein eigenes Hoheitsgebiet. Manchmal, wenn es Streit gab, zogen wir mit Kreide Striche auf dem Holzfußboden, um unser Terrain abzustecken, oder wir legten einander irgendwas Ekliges, Schwabbliges aus dem Teich unter die Bettdecke.

»Ob es noch lange dauert?«, sagte Billie und setzte sich neben mich.

Kester bog die Feile mit dem Daumen zu sich runter und ließ sie mit einem Surren in ihre Richtung hochschnellen.»Müssen wir kein Wasser heiß machen?«

»Wir sind hier doch nicht auf High Chaparral«, entgegnete meine Schwester und kratzte sich gelangweilt an der Wade.

Wir hockten eine Weile stumm da, zu müde, um uns einen neuen Zeitvertreib einfallen zu lassen. Schließlich sagte Kes:»Du brauchst mich nicht zu lieben, Scarlett, aber küss mich.«

Darauf rief Billie aus:»Oh Rhett! Darling! Don’t get killed!« Sie ließ sich hintenüberfallen, rang die Hände und seufzte. Dann richtete sie sich wieder auf und sagte:»Warte, jetzt ich eine für dich.«

»Casablanca«, sagte ich zu Carlos, der an den Stäben seines Gitterbetts rüttelte.

Billie und Kes lachten, ich wusste nicht, wieso. Billies langes Haar fiel wie eine Fahneüber ihre Schultern, und ich roch Kesters Socken. Da bekam mein Herz plötzlich aus irgendeinem Grund einen Schubs, wie das Pendel einer alten Standuhr, die geraume Zeit gestanden hat. War das ein miserabler Sommer gewesen! Angefangen hatte es mit Carlos’ Unfall, oder nein, natürlich schon davor, am Ostersonntag, als mein Vater nach dem Eiersuchen unvermittelt verkündet hatte, dass wir Familienzuwachs bekommen würden. Er setzte dabei seine Brille ab und wieder auf – ein Tick, der sich immer einstellte, wenn ihm die Worte fehlten – und sah uns reihum mit einer Art verlegenem Triumph an. Mir war, als müssten wir ihm eigentlich die Hand schütteln und gratulieren.

Wir saßen alle in der Küche, drauf und dran, mit dem Osterfrühstück zu beginnen. Meine Mutter sagte:»Ihr dürft euch einen Namen ausdenken.«

»Ramona!«, rief ich gleich. Das war ein Lied von den Blue Diamonds:»Ramona! Ramona! Uhuuh!«

»Und wenn es ein Junge wird?«, fragte Kester.

Erschrocken begann ich auf einer Haarsträhne zu kauen: Wollte er denn nicht noch eine Schwester?

Billie meinte entrüstet:»Wir haben aber bei uns oben keinen Platz mehr. Wenn noch einer dazukommt, will ich mein eigenes Zimmer.«

»Ach, Schatz«, erwiderte meine Mutter.

»Ich bin fünfzehn!«, rief Billie aus, als erklärte das etwas.

Wir sahen sie alle erstaunt an.

»Ich brauche meine Privatsphäre!«

»Deine was?«, fragte Kester.

Später fragte ich meine Mutter, was wohl hinter Billies Forderung stecken mochte.»Ich weiß nicht genau, Ellen«, sagte sie.»Dass ihr groß werdet, wahrscheinlich.«

In mein Tagebuch notierte ich ungehalten, dass ich es hasste, wenn Billie»so abstrakt« antwortete. Ich war nämlich selbst ganz versessen auf derartige Ausdrücke und konnte es daher nicht ertragen, dass Billie, die nur auf die Mittelschule ging, ein Wort verwendete, bevor ich es in unsere Familie eingeführt hatte. Nach den großen Ferien würde ich aufs Gymnasium kommen und Livius und Homerübersetzen.»Sprach man schon in der Antike von›Privatsphäre‹«, schrieb ich in mein Tagebuch,»oder ist das ein moderner Gedanke?«

Für meine Aufsätze bekam ich mei