Seinen festen Wohnsitz während der Verbannung soll, nach der biographischen Tradition, Thukydides auf dem thrakischen Besitztum gehabt haben; das ist wohl nur ein Wahrscheinlichkeitsschluss, aber in der Tat der nächstliegende. Seine umfassenden Erkundigungen, von denen das ganze Werk zeugt, nötigen jedoch auch zu der Annahme, dass er in dieser Zeit ausgedehnte Reisen unternahm, darunter wohl auch eine nach Sizilien.
Das Kriegsende, auf welches zwei Stellen seines Werkes eindeutig (II, 65 u. V, 26) und eine Reihe von weiteren Stellen sehr wahrscheinlich Bezug nehmen, dürfte er um mindestens einige Jahreüberlebt haben, da er wichtige Partien seines Werkes, wenn nichtüberhaupt erst die eigentliche Niederschrift nach 404 verfasst hat. Ob er nach seiner Rückberufung aus der Verbannung seinen Wohnsitz wieder nach Athen verlegte und wann er starb, ist unbekannt; man vermutet, dass es um die Jahrhundertwende war, da Anspielungen auf Ereignisse der Folgezeit fehlen. Der Tod scheintüberraschend eingetreten zu sein, da die Darstellung nur bis in das Jahr 411 hineinreicht– also nur zu etwa drei Vierteln fertiggestellt war– und mitten in einem Satz abbricht. Die Fortsetzung, die sein jüngerer Zeitgenosse Xenophon verfasste, schließt unmittelbar an diese Abbruchstelle an; das Werk war also der ersten Generation nach Thukydides in genau dem gleichen Umfang erhalten wie uns.
Als Gegenstand seiner Darstellung bezeichnet Thukydides»den Krieg der Peloponnesier und Athener«, und an dieses Thema hat er sich, mit nur wenigen Abschweifungen, streng gehalten, es allerdings ausgeschöpft in der ganzen Tiefe der Entstehungsgeschichte und Breite aller Erscheinungen. Stofflich gesehen, tritt er damit in die Nachfolge des Heldenepos; Kampf und Krieg waren der volkstümlichste, sozusagen natürliche Interessengegenstand der altgriechischen Menschheit von Urzeiten her, und die für modernes Gefühl gelegentlich die Grenzen des Unwichtigen streifende Ausführlichkeit des Thukydides im kriegsgeschichtlichen Detail erklärt sich aus dieser Tradition. Aber wie schon für den Iliasdichter dieser Stoff der Untergrund ist, auf dem er das Abbild einer Welt sichtbar macht, so will auch zweifellos Thukydides in der engen und absichtlichen Ausschließlichkeit seiner Thematik ein»Weltbild« gestalten, das neue, von ihm entdeckte Bild der Menschheit, die Welt des Politischen. Visionär gefasst wurde diese Konzeption wohl ursprünglich und vor allem im Widerspruch zu der Herodots und beruht also ganz auf dessen Vorgang, wie indirekt auch auf dem des Hekataios. Geschichtliche Aufgaben waren von diesen Vorgängern der Reihe nach gelöst worden: Entmythisierung, Länder- und Völkerkunde, Rekonstruktion der Vergangenheit aus ihrer eigenen Darstellung und im wesentlichen im Geiste ihrer eigenen Sinndeutung, deren Erledigung die Möglichkeit der Entdeckung neuer freigab: Gegenwartsgeschichte, Analyse der geschichtlich wirksamen Kräfte und Typologie ihrer Gesetzlichkeit als Lehre für die Zukunft. So leicht es für uns ist, diese Schrittfolge als eine natürliche nachzuzeichnen, so außerordentlich hoch haben wir für jeden dieser Schritte die Originalität zu veranschlagen, schon bei Hekataios und Herodot, aber in noch stärkerem Grade gilt dies für Thukydides, dessen Darstellung, soweit sie nicht nur Erzählung, sondern Deutung ist, Gesetzlichkeiten vorausnimmt, die, in seiner eigenen Zeit wohl nur den Wenigsten ahnungsweise und unsystematisch wahrnehmbar, erst in der Neuzeit, ja vielleichtüberhaupt erst in unseren Tagen, in der gleichen beherrschenden Deutlichkeit an die Oberfläche der Geschichte treten und die Berechtigung seines Ansatzes bestätigen.
Hierin: in der Entdeckung des Politischen als eines isolierbaren Phänomens in der Fülle der geschichtlichen Erscheinungen und damit– wie Thukydides glaubt– des Systems ihrer eigentlichen Antriebe, liegt die entscheidende Leistung des Thukydides für die Geschichtswissenschaft, nicht so sehr in seinen Errungenschaften für die Methodik der Nachrichtenbehandlung und damit eine wissenschaftlich einwandfreie Ermittlung der tatsächlichen Hergänge, welche oftüberschätzt und einseitig hervorgekehrt worden sind. Denn weder war Herodots historische Technik»vorwissenschaftlich« oder gar»unkritisch&