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Kapitel 2
Begegnung mit unserem Problem: Doppelleben
Wenn eines auch heute noch im Bild derÖffentlichkeitüber die Kirche lebt, dann dies: In der Kirche, da sind die Heiligen, die mit den hohen, steilen Ansprüchen. Leute, die irgendwie besser sein wollen als die Sünder um sie herum. Einübles Zerrbild. Aber eines, das deutlich macht: Christsein und das fromme Soll werden stark miteinander identifiziert. Christen müssen offensichtlich irgendwie die besseren Menschen sein, so viel ist klar. Klar ist allerdings auch, dass sie es gar nicht sind. Und dass keiner besser darüber Bescheid weiß als wir selbst: Soll und Ist klaffen auseinander. Außen- bzw. Wunschbild und Wirklichkeit stimmen nichtüberein.
Bei einer Umfrage eines US-Internetdienstes unter 700 Christen gaben 51 Prozent zu, im vergangenen Monat gelogen zu haben. Nach anderen Umfragen sollen angeblich rund 50 Prozent aller christlichen Männer pornosüchtig sein. Wenn das so wäre, müsste man darüber reden, predigen und schreiben, diese mögliche männliche Wirklichkeit wahrnehmen. Tun wir aber nicht. Weil es gar nicht stimmt? Oder weil wir es nicht wahrhaben wollen und nicht an unserer glänzenden Fassade kratzen möchten?Tatsache ist –, dass wir lange nicht so gut, edel und fromm sind, wie die Leute denken oder wir uns selbst das gerne vormachen wollen.Tatsache ist – und dazu braucht man keine Umfrageergebnisse –, dass wir lange nicht so gut, edel und fromm sind, wie die Leute denken oder wir uns selbst das gerne vormachen wollen. Aber dennoch putzen wir alle an unserer Fassade herum – und verweisen unser Versagen ins schummrige Dunkel, damit es nicht gesehen wird. Das erzeugt Stress. Denn wir wissen ja um den Anspruch der Bibel und unsere eigenen Ideale. Und wir möchten gut dastehen – also mühen wir uns, ein schönes Bild von uns hochzuhalten. Zugleich aber kennen wir unsere Wirklichkeit – und leiden darunter, Gott, uns selbst und den Menschen um uns herum nicht genügen zu können. Zum Glück, meinen wir, weiß das ja keiner: Unsere Fassade wird ja geputzt. Auf Dauer aber verkrümmt uns dieses Leben in zwei Welten.
Das also macht unser Problem aus: Eigentlich wollen wir als Christen wahr leben. Ehrlichkeit und Echtheit gehören zum Glauben. Aber zugleich macht das christliche Umfeld mit seinen hohen Idealen und Ansprüchen es uns besonders schwer, ehrlich zu sein. Man lernt schnell, dass es sich lohnt, ein Doppelleben zu führen. So fällt man nicht auf, eckt nicht an und kann mitschwimmen im Strom der»Normalen« – muss seine Wirklichkeit mit ihren Schwächen, Fehlern, Fragen oder Zweifeln nicht offenbaren. Einige Beispiele, die ich so oder anders immer wieder erlebe:
? Steile Predigt
Ein Gastprediger ist zu Besuch und hält eine Predigtüber die Ewigkeit.»Nicht wahr, wir freuen uns doch alle auf den Himmel?!«, ruft er begeistert aus. Und ich denke: Nein, das geht mir ganz anders! Ich hänge an meinem Leben, an meiner Frau, den Kindern. Ich genieße jeden neuen Tag. Und der Himmel? Ich weiß nicht, wie es dort sein wird. Werde ich meine Frau wiedersehen? Wenn nicht, dann will ich da eigentlich gar nicht hin. Und goldene Gassen und prachtvolle Tore? Da stehe ich nicht drauf – lieber heute Nachmittag einen schönen Spaziergang am Strand. Ich bin unsicher in Bezug auf den Himmel. Eigentlich will ich vor allem gesund sein und hierbleiben und mich am Leben freuen.
Ich schaue mich um im Gottesdienst: Alle scheinen zuzustimmen, keiner schüttelt den Kopf. Alle freuen sich auf den Himmel – nur ich nicht. Na gut, dann halte ich wohl auch besser die Klappeüber meine Fragen und Zweifel – und tu so, als würde ich mich genauso freuen.
Ein Beispiel von vielen – ich weiß nicht, wie viele Christen sich wirklich auf den Himmel freuen. Meine Zweifel werden bestätigt, wenn ich so viele Alte sehe, die sich als langjährige, reife Christen auch noch mit 85 mit jeder Faser ans Leben klammern. Oder wenn ich versuche, einen Rückschluss aus der Tatsache zu ziehen, dass viele Christen so intensiv um Heilung beten. Ja, ist es denn nicht im Himmel viel schöner als auf der Erde? Und freuen wir uns nicht alle darauf? Da hat doch keiner widersprochen, oder?
Die Wirklichkeit unseres Lebens sagt etwas anderes als unserÜber-Ich, das sich gefordert sieht, unsere christlichen Ideale hochzuhalten. Wir freuen uns alle auf den Himmel. Nur wollen wir da nicht ganz so schnell hin. Was ich gut verstehen kann – es geht mir ja genauso. Wir sind eben Menschen – und diese himmlische Perspektive ist uns fremd und verlangt viel Glauben. Und weckt manchen Zweifel, viele Fragen. Nur: Wäre es nicht viel klüger – und vor allem viel echter –, wenn wir das auch mal voreinander zugeben würden? Wenn wir an dieser Stelle (und an vielen anderen …) ehrlicher predigen würden und unsere Wirklichkeit genauso»wahr« nähmen wie unsere Ideale und Glaubensziele?
Ich weiß nicht, wie viele Christen sich wirklich auf den Himmel freuen. Und ich bin