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II. Frühe Prägungen für ungeahnte Dienste
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Mutter und die Tanten
Wir besaßen wirklich kein großes Haus, aber es war ein Haus mit offenen Türen.
Ich glaube nicht, dass die vielen Gäste, die zu uns kamen, je gemerkt haben, wie schwierig es manchmal war, dies alles zu finanzieren. Viele einsame Menschen kamen – denn es gab Musik, Humor, manches interessante Gespräch und immer auch einen Platz an dem ovalen Esstisch. Manchmal allerdings, wenn zu viele unerwartete Gäste gerade zur Essenszeit kamen, musste die Suppe ein wenig mit Wasser verlängert werden. Niemand störte das.
Mutter freute sichüber Gäste. Sie verstand sie immer auch als einen Segen. Nun besaß sie eine»Segensbüchse«, in der Geld für die Mission gesammelt wurde. Für jede Segnung wanderte ein Pfennig oder ein Groschen hinein. Wenn sie mit ausgebreiteten Armen die Besucher willkommen hieß, konnte sie die Büchse schon in der Hand halten:»Einen Pfennig in die Segensbüchse! Wie schön, dass du gekommen bist!«
Wenn ich bei meinen Reisen rund um die Erde von der Gastfreundschaft anderer Christen abhängig bin, dann denke ich oft, dass ich hier den Segen für die weit geöffneten Türen und Herzen unseres Hauses daheim empfange. Nur selten muss ich mich für die Nacht nach einem Hotelzimmer umsehen. Schon hier auf der Erde erlebe ich etwas von dem»Hause mit den vielen Wohnungen«.
»Lass dein Brotüber das Wasser fahren, denn du wirst es finden nach langer Zeit«, sagt der Prediger Salomo.
Tante Jans verlor ihren Mann, als sie noch nicht einmal vierzig Jahre alt war. Sie hatten keine Kinder, und so war es nun selbstverständlich, dass sie nach dem Tode ihres Mannes in unser Hausübersiedelte. Da war bei uns allerlei umzubauen, aber nun wohnte sie in der ersten Etageüber dem Geschäft. Hierher brachte sie ihren Schreibtisch und ihre Bibliothek, und es begann für sie die alleraktivste Zeit ihres Lebens. Sie hatte dichterische, schriftstellerische und organisatorische Gaben und war auch eine ungewöhnlich gute Rednerin. Sie begann eine Monatsschrift für Mädchen herauszugeben und schrieb Bücher mit einer klaren Evangeliumsverkündigung. Doch keines dieser Bücher wurde jeüber den Kreis ihrer Freunde hinaus bekannt – ich glaube, weil sie vielleicht etwas zu altmodisch und zu sentimental waren.
Der»Christliche Verein junger Mädchen« war damals in Holland nur wenig bekannt. So baute Tante Jans eine Klubarbeit mit jungen Frauen auf, wobei sie selbst die Treffen leitete. Später weitete sie die Arbeitüber das ganze Land aus. Sie war eine tätige Seelsorgerin.
In Haarlem gab es auch eine Garnison. Tante Jans sah bei uns auf den Straßen die vielen Soldaten, und sie entschloss sich, für diese Männer ein Heim einzurichten. So lud sie eines Tages wohlhabende Leute der Stadt zu einer Versammlung ein und sprach zu ihnen bewegendüber die Notwendigkeit eines Soldatenheims, sodass sie binnen kurzer Zeit alles erforderliche Geld beisammenhatte, um das Haus zu bauen. Zweimal in der Woche ging sie dann selbst dorthin, um Bibelstunden zu halten. Einsame junge Männer, die keine Freude daran hatten, auf der Straße herumzubummeln, lud sie auch in die Wohnung ein, sodass in jener Zeit wohl an jedem Abend Leute vom Militär in unserm Haus waren. Viele Soldaten fanden den Herrn Jesus.
Ein Sergeant unter ihnen war ein großer Musiker, und Tante Jans brachte ihn dazu, meiner Schwester Nollie und mir Musikunterricht zu geben. So lernten wir Harmonium spielen. Sobald ich dazu fähig war, Lieder zu spielen, musste ich bei den Bibelstunden mit den Soldaten dabei sein, um das Singen zu begleiten. Ich begann damit sehr jung, wohl zwölfjährig, und als ich in das Alter kam, in dem ein junges Mädchen in der Gegenwart von Männern zwar selbstbewusst, aber doch auch schüchtern ist, da war ich solchen Umgang schon so gewohnt, dass mir das keine Schwierigkeiten mehr machte.
Bevor ich spielen konnte, musste ich singen. Ich war noch sehr jung und erinnere mich an ein Lied, in dem es um das verlorene Schaf ging, das von dem guten Hirten gefunden wurde. Die letzte Zeile hieß:»Und jenes Schaf, das in die Irre ging, war ich.« Da nahm mich eines Abends nach dem Singen ein kräftiger Offizier auf den Schoß und fragte mich:»Du, wann bist du denn in die Irre gegangen?«
Ich musste ihm bekennen, dass ich mich nicht daran erinnern könne, verloren gewesen und durch den Hirten gefunden worden zu sein.
Tante Jans war eine fröhliche Geberin, aber sie hatte einen ausgesprochen altmodischen Geschmack. Als Pfarrerswitwe erhielt sie damals eine sehr knappe Pension, aber sie wurde durch verschiedene Stiftungen unterstützt. So geschah es, dass sie manchmal ganz unerwartet etwas Geld geschickt bekam, und wir mussten an ihrer Freude teilhaben. Sie kaufte dann für uns alle Kleider und Hüte. Nollie und Betsie, meine Schwestern, hatten ihren ausgeprägten eigenen Geschmack, und es war für Tante Jans schwierig, ihnen eine Freude zu machen. Ich aber war im Blick auf meinÄußeres gleichgültiger. So habe ich alles, was sie mir gab, gern angenommen und bekam schließlich die meisten Hüte und Kleider von ihr und sah entsprechend aus.
Ich erinnere m