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Kapitel 2
Von der Sehnsucht zum Ruf
Offensichtlich stimmt es. Wir Menschen sind bedürftig. Wir haben Sehnsucht. Aber wohin treibt uns diese Sehnsucht? Wo versuchen wir, unsere Sehnsucht zu stillen?
Die Sehnsucht macht sich immer wieder an etwas fest, das wir in uns zu spüren ahnen. Sie treibt uns zur Suche nach unserem Ursprung. Einem Zustand, in dem alles heil und ganz war. Bei dieserIn Gemeinschaft mit Christus zu leben heißt, ihm nachzufolgen. Suche nach dem Ursprung werden wir uns immer auch die Frage nach Gott stellen. Nach dem Gott, der uns eine geheimnisvolle Erinnerung an unseren Ursprung gelassen hat und der uns durch diese Sehnsucht ruft.
Das Ziel unserer Sehnsucht ist immer eine Form von Gemeinschaft. Die Gemeinschaft mit Gott, dem Ursprung allen Lebens, und die Gemeinschaft mit Christus, seinem Sohn, der uns als Mensch begegnet und in seine Nachfolge ruft. In Gemeinschaft mit Gott zu leben heißt, in seiner Gegenwart zu leben. Und in Gemeinschaft mit Christus zu leben heißt, ihm nachzufolgen.
In der Nachfolge – wenn ich mit Gott in Gemeinschaft lebe und mit Christus unterwegs bin – wird meine Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, nach dem, wasüber mich hinausgeht, gestillt. Aber was ist unter Nachfolge konkret zu verstehen? Diese Frage lässt auch mich nicht los. Bonhoeffer schreibt:
Nachfolge ist Bindung an Christus; weil Christus ist, darum muss Nachfolge sein … Ein Christentum ohne den lebendigen Jesus Christus bleibt notwendig ein Christentum ohne Nachfolge, und ein Christentum ohne Nachfolge ist immer ein Christentum ohne Jesus Christus; es ist Idee, Mythos. Ein Christentum, in dem es nur den Vatergott, aber nicht Christus als lebendigen Sohn gibt, hebt die Nachfolge geradezu auf. Hier gibt es Gottvertrauen, aber nicht Nachfolge.4
Diese Sätze beeindrucken mich. Sie sind wie Paukenschläge. Bonhoeffer lässt keinen Zweifel aufkommen. Nachfolge ist Bindung an Christus. Und: Weil Christus ist, darum muss Nachfolge sein. Mir geht es beim Lesen wie Wolf-Dieter Zimmermann, einem der ersten Studenten Bonhoeffers, der die Wirkung der Vorlesung Bonhoeffers beschreibt:
Nach den Zeiten des Problematisierens von theologischen und kirchlichen Gegebenheiten – wie das im Studiumüblich war – ging hier ein Mann völlig selbstverständlich davon aus, dass es unaufhebbare christliche Tatbestände gibt, denen wir uns zu fügen hätten. Schlagartig wurde eine Realität sichtbar, an der wir nicht mehr rütteln konnten, weder durch Zweifeln noch durch Leugnen. Das wirkte damals auf mich wie eine Befreiung. Da gab es Tatbestände, auf die ich mich verlassen konnte. Da wurde mir klar, dass es eine – jenseits des Menschen liegende – Realität gibt, die Gültigkeit behält, völlig unabhängig von der Haltung des Menschen.5
Nachfolge ist Bindung an Christus. Und weil Christus ist, darum muss Nachfolge sein. An dieser Tatsache gibt es nichts zu rütteln.
Wie kann ich mir nun diese Bindung an Christus vorstellen? Was heißt Nachfolge für mich konkret? Ich muss an eine Geschichte denken, die mich seit meiner Jugend begleitet und die in meiner Erinnerung immer wieder auftaucht. Sie beschreibt eindrucksvoll das Geheimnis des Rufes Jesu und welche Wirkung er hat.
Immer wieder werde ich selbst Teil dieser Geschichte, habe selbst solche besonderen»Bankbegegnungen«, bei denen ich spüre, dass der, dem ich nachfolgen will, konkret in meine Situation hineinspricht. Ich höre. Ich genieße seine Gegenwart. Nach diesen Begegnungen kann ich dann anders – irgendwie erleichtert – aufstehen und meinen Weg fortsetzen oder einen neuen Weg beginnen.
Auf einer Bank
Der Junge sitzt auf einer Bank. Er hat seinen Kopf gesenkt. Aber nicht, weil er schläft. Er weint leise vor sich hin. Wie Jungen eben zu weinen pflegen. Die alte Frau hat ihn schon von Weitem bemerkt. Ohne lange zuüberlegen, setzt sie sich stumm dazu. Sie kramt in ihrer Tasche. Schließlich holt sie eine Weinflasche hervor und stellt sie neben sich auf die Bank. Vielleicht hat der Junge die alte Frau kommen sehen oder er ist durch ihren sonderbaren Geruch vorgewarnt. Als er den Kopf hebt und sie anschaut, ist er von ihrem Aussehen nichtüberrascht.
»Geht’s dir nicht besonders gut, Kleiner?«, fragt die Frau etwas unsicher. Er schüttelt den Kopf.»Mir auch nicht«, sagt die Frau und nimmt einen Schluck aus der Flasche. Anschließend wischt sie sich den Mund mit dem dreckigenÄrmel. Der Junge weiß nicht recht, ob er sitzen bleiben oder lieber Reißaus nehmen soll.»Warum hast du geweint?«, fragt die Frau mit einer Selbstverständlichkeit und Offenheit, die es dem Jungen schwer macht au