Von der Marseillaise zur »Stadt ohne Namen«
Am 30. April 1790 gegen drei Uhr morgens schleicht ein kleiner Trupp Nationalgardisten im Dunkeln den Hügel von Notre-Dame de la Garde hinauf, wo sich eines der drei Marseiller Forts befindet. Als bei Tagesanbruch die Ziehbrücke heruntergelassen wird, behaupten die Männer, sie seien gekommen, um der Frühmesse in der Kapelle beizuwohnen. Das will man den frommen Bürgern nicht verwehren, man lässt sie herein und sie überrumpeln die Besatzung. Der Kommandant des Forts zögert zunächst, aber als ihm die Eindringlinge weismachen, draußen warte eine zweitausend Mann starke Truppe auf ihren Einsatz, gibt er auf. Anstelle des königlichen Lilienbanners wird die Trikolore aufgezogen, unten in der Stadt können es alle sehen, und die Neuigkeit verbreitet sich in Windeseile.
Beim Marsch auf das Fort Saint Nicolas beteiligt sich dann schon eine größere, freudig erregte Menschenmenge. Auch hier gelingt die Einnahme recht problemlos und friedfertig. Der Kommandant der königlichen Garnison kapituliert nach einer Anstandsfrist. Und bald weht es auch hier blau-weiß-rot vom Turm.
Anders läuft es dann beim Fort Saint Jean: Hier wird Widerstand geleistet, was der Kommandant Calvet und der Major Louis de Beausset mit dem Leben bezahlen. Beider Köpfe werden im Triumphzug auf Piken durch die Stadt getragen. Der Fall der Marseiller Bastillen wird ausgiebig gefeiert. »Wir mussten diesen Brandherd der Konterrevolution löschen, der in unserer Mitte loderte und uns bedrohte. Indem wir uns der Forts bemächtigten, haben wir eine heilige Pflicht erfüllt«, teilen die Marseiller Patrioten der Nationalversammlung in Paris mit.
Es handelt sich hier nicht einfach nur um eine Imitation des Pariser Ereignisses vom Vorjahr. Diese Forts haben eine sehr eigene Bedeutung für Marseille, sie stehen für die demütigende Unterwerfung der Stadt durch Louis XIV, den »Sonnenkönig«, 130 Jahre zuvor.
Begleitet von dumpfem Trommelklang rückten am 22. Januar