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Die letzten Gäste verabschiedeten sich.
„Wenn ihr Hilfe braucht, sagt Bescheid; ich komme sofort, oder ich schicke euch Emma.“ Mit diesen Worten klemmte sich Tante Johanna ihren kleinen schwarzen Hut mit dem Gummiband unter dem Haarknoten fest, vergewisserte sich, ob Gebetbuch und Portemonnaie in der Handtasche waren, und verließ mit ihrem Mann das Haus.
Kalte Luft zog von draußen in die Küche. Lene schloss schnell die Tür und schob dann ein Stück Holz in den Herd, damit die Glut nicht erlosch. Müde ließ sie sich auf die Küchenbank fallen. Auf dem Tisch standen leere Kuchenbleche; im Steinwaschbecken türmte sich das Kaffeegeschirr, das die beiden Schwestern in die Küche getragen hatten, als die ersten Gäste aufbrachen. Als Lene einen Stuhl zur Seite schob, um ihre Beine ausstrecken zu können, entdeckte sie auf dem Boden einen Totenzettel, der einem Besucher aus der Manteltasche oder dem Gebetbuch gefallen sein musste.
Zur Erinnerung an
Katharina Bünting, geb. Drews
geb. am 1o. November 1915– gest. am 16. Januar 1958
Nach kurzer, schwerer Krankheit nahm Gott sie viel zu früh zu sich.
Herr, Dein Wille geschehe!
Lene und Martha hatten sich gegen den letzten Satz gesträubt, aber der Vater und die Großmutter hatten darauf bestanden. Auch wenn die Mutter sich klaglos in ihr Schicksal gefügt hatte und schließlich still gestorben war, wollten die beiden Mädchen diesem ungerechten Gott nicht auch noch beipflichten, der willkürlichüber Leben und Tod zu bestimmen schien.
Aus dem Wohnzimmer drang das Klirren von Gläsern. Lene stand auf, nahm mit dem Feuerhaken zwei Ringe aus der blank geschmirgelten Herdplatte und setzte einen zweiten Kessel Wasser auf. Als Martha mit einem Tablett voller Schnaps- und Biergläser in der Tür erschien, rief Lene:„Bring mir bloß nicht noch mehr. Wir müssen erst mal hier Platz schaffen.“
Sie schüttete das heiße Wasser ins Spülbecken, mischte es mit kaltem Wasser, bis es die richtige Temperatur erreicht hatte, und begann, achtlos die Kaffeetassen abzuwaschen.
„Sei vorsichtig“, entfuhr es Martha erschrocken,„die mit dem Goldrand gehören doch Ida. Traust du dich vielleicht, ihr eine angestoßene Tasse zurückzubringen?“
„Ida“, fuhr Lene auf,„die hatüberhaupt keinen Grund, sich aufzuregen. Haben wir etwa alle Teller nach der Hochzeit ihres geliebten Ulrich zurückbekommen? Löffel haben auch gefehlt, aber niemand hat sich bei ihr beschwert. Gott sei Dank ist sie schon nach Hause gegangen, sonst würde sie hier immer noch herummeckern!“ Trotzdem stellte Lene das Geschirr jetzt vorsichtiger ab.
Unter den Mädchen gab es eine feste Aufgabenverteilung: Lene spülte, Martha trocknete ab. Lene räumte das Geschirr ein, Martha schmirgelte den Herd. Letzteres allerdings erst, seitdem die Mutter krank geworden war. Undenkbar, dass die beiden Brüder beim Abwasch halfen, denn Mädchen gehörten in die Küche und Jungen auf den Hof. So einfach war das.
Der Vater hatte seinen Platz im Wohnzimmer seit dem Mittagessen nicht verlassen. Auf dem Sofa hinter dem zu hohen Tisch zwischen den beiden Großtanten nahm man ihn kaum wahr. Die hatten sich Sofakissen unter den Hintern geschoben, um besser an die Schüsseln zu gelangen.
Das Esszimmer war für die große Verwandtschaft zu klein. Außerdem konnte es nicht geheizt werden. Deshalb hatten dieÄlteren im Wohnzimmer Platz genommen. Das wiederum hatte dazu geführt, dass Tante Hilde, der man mit ihren 40 Jahren niedrige Temperaturen im Zimmer glaubte, zumuten zu dürfen, aus Protest während des Essens ihren Mantel nicht ausgezogen hatte.„Ich habe wegen einer Blasenentzündung eine Woche im Bett gelegen und will nicht schon wieder krank werden“, rief sie angriffslustig in die schwarz gekleidete Runde.
Die Gäste sahen verlegen auf ihre Teller, dennüber solche Krankheiten sprach man nicht im Beisein von Männern, schon gar nicht vor dem Essen, wenn die Ergriffenheit, die eine Beerdigung mit sich brachte, noch nicht durch ein Gläschen Schnaps gelockert war. Aber Tante Hilde war ohnehin das schwarze Schaf der Familie. Und da ihr loses Mundwerk bekannt und gefürchtet war, zog man es am Tisch vor, sich auf die soeben servierte Suppe zu konzentrieren. Nur Paul