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Die Menschen in Fragolin waren stolz darauf, imarrière-pays zu leben, im Hinterland der Côte d’Azur, im Massif des Maures, inmitten von Korkeichenwäldern und Kastanienbäumen. Zwar war es nicht weit zur Küste, und doch war man vom Trubel rund um Saint-Tropez, Cavalaire oder Le Lavandou Lichtjahre entfernt. Unter den älteren Einwohnern gab es welche, die waren nur ein- oder zweimal im Leben am Meer gewesen.Le vieux Georges, der kaum mehr Zähne im Mund hatte, aber schon am Vormittag seinen ersten Pastis trank und gerne Geschichten erzählte, behauptete gar, das Meer nur als blauen Streifen von der Ferne zu kennen. Dazu pflegte er verächtlich auf den Boden zu spucken. Nur größenwahnsinnige Idioten würden sich dort unten herumtreiben, man bekomme ansteckende Krankheiten und Ohrensausen. Das sei eine allgemein bekannte Tatsache. Man sollte ein Gesetz verabschieden, das den Besuch der Küstenorte für Gesundgebliebene unter Strafe stellte. Gleichzeitig sollte Fragolin für Touristen gesperrt werden. Diese würden mit ihren Autos die Luft verpesten und ohne Sinn und Verstand kreuz und quer durch die Gassen laufen. Üblicherweise bestellte Georges spätestens jetzt einen zweiten Pastis. Dann zündete er sich eine filterlose Gitanes an, musste husten und begann vom Krieg zu erzählen.
Natürlich ging in Fragolin keiner so weit wie der alte Georges. Man hatte prinzipiell nichts dagegen, dass Gäste vom Meer heraufkamen, um hier ihr Geld auszugeben. So lebte Clodine mit ihrem LadenAux saveurs de Provence ausschließlich von Touristen. Kein Einheimischer käme je auf die Idee, bei ihr eine Seife zu kaufen. Nicht einmal die herzförmigencoeurs mit dem Duft nach Lavendel und Zitronen. Das HotelAuberge des Maures war gefragt bei Gästen, die die Natur liebten und in der Umgebung ausgedehnte Wanderungen unternahmen. Es gab das RestaurantLa Terrasse Provençale, das sogar vomGuide Michelin empfohlen wurde. Es gab das Korkgeschäft, vor dem Alain, in einem alten Lehnstuhl sitzend, auf Touristen wartete, die sich für die von ihm geschnitzten Schalen interessierten. Es hatten sich auch Fremde in Fragolin niedergelassen, einige Künstler, ein Aussteigerehepaar aus Schweden, eine Handvoll Engländer, Zweitwohnsitzler aus Paris, die nur selten da waren. Aber beim nachmittäglichen Pétanque vor demHôtel de ville, dem Rathaus, war man unter sich. Es galt die unausgesprochene Regel, dass sich am Boulespiel nur beteiligen durfte, wer im Ort gebürtig war. Fragolin war zwar mit der Zeit gegangen, aber einige Uhren schienen im Ort langsamer zu gehen, manche waren sogar stehengeblieben – irgendwann, vor vielen Jahren. Fragolin hatte sich viel von seinem ursprünglichen Charakter bewahrt. Vielleicht deshalb, weil die beiden Straßen, die zum Ort führten, ebenso schmal wie kurvig waren. Fragolin lag für Touristen nicht so nah wie etwa Ramatuelle, Grimaud oder La Garde-Freinet. Der alte Georges bekreuzigte sich.»Dieu m’en garde!« Gott bewahre!
Isabelle Bonnet näherte sich Fragolin auf einer Straße, die auf beiden Seiten von Platanen gesäumt wurde. Sie überquerte einen Bach, blieb auf der kleinen Brücke kurz stehen. Sie versuchte sich an das Bild mit der alten Mühle zu erinnern – vergeblich. Sie bog rechts ab, kam am Korkgeschäft von Alain vorbei, das es zu ihrer Kindheit ganz gewiss noch nicht gegeben hatte, und entdeckte ein Schild, das auf dieAuberge des Maures hinwies, wo sie ein Zimmer reserviert hatte. Dann ging es nicht weiter. Vor ihr stauten sich einige Fahrzeuge, was erstaunlich war, denn es waren kaum welche unterwegs. Schließlich entdeckte sie den Grund für die Verzögerung, und zwar in Form einer Uniform der örtlichen Gendarmerie. Der gute Mann hatte die Straße gesperrt und kontrollierte die Papiere. Isabelle lächelte. Dem war wohl langweilig. Auch eine Form, sich zu amüsieren. Was aber ein einseitiges Vergnügen war. Sie spielte mit dem Gedanken, über den Bürgersteig an den Autos vorbeizufahren, dem Gendarmen einen ihrer Ausweise unter die Nase zu halten, am besten gleich jenen vom Élysée-Palast, der vom Präsidenten der französischen Republik unterschrieben war und ihr alle Vorrechte einräumte, doch sie besann sich eines Besseren. Warum sollte sie das tun? Sie hatte Zeit und den festen Vorsatz, sich zu erholen. Also wartete sie geduldig, bis sie an der Reihe war. Der Gendarm salutierte und fragte nach ihrercarte d’identité und dem Führerschein. Er war ungefähr in ihrem Alter. Isabelle überlegte, dass die theoretische Möglichkeit bestand, dass sie als kleine Kinder zusammen gespielt hatten.
»Sind Sie von der Presse?«, fragte der Gendarm mit unerwartet scharfer Stimme.
Isabelle zog fragend die rechte Augenbraue nach oben. »Von der Presse? Sehe ich so aus? Und warum spielt das eine Rolle?«
Der Gendarm sah sie konzentriert an. »Beantworten Sie meine Frage! Sind Sie von der Presse?«
»Nein, bin ich nicht«, sagte sie. »Ich bin zur Erholung hier und habe da vorn im Hotel ein Zimmer reserviert.«
»Zur Erholung, soso. Ich werde Sie im Auge behalten!«
»Könnten Sie mir erklären, warum? Ist etwas vorgefallen?«
»Kein Kommentar. Aber wenn Sie doch von der Presse sind, bekommen Sie Ärger, und zwar mit mir persönlich.« Er winkte ihr, weiterzufahren.»Bonne journée!«<