Kapitel eins
Ich meine es ernst, du darfst das keiner Menschenseele erzählen«, flüsterte eine rauchige Frauenstimme. »Ich könnte meinen Job verlieren.«
Ava Garrison öffnete ein schlaftrübes Auge. Von ihrem Bett aus hörte sie die Stimme hinter der schweren Eichentür, die einen Spaltbreit offen stand.
»Sie hat keine Ahnung, was los ist«, stimmte eine weitere Frau zu. Ihre Stimme war tiefer als die erste, und Ava meinte zu wissen, wem sie gehörte. Pochender Kopfschmerz machte sich hinter ihren Augen bemerkbar, wie immer, wenn sie einen Alptraum gehabt hatte. Der Schmerz würde nachlassen, doch in den ersten Minuten nach dem Aufwachen hatte sie stets das Gefühl, eine Horde eisenbeschlagener Pferde galoppiere durch ihr Gehirn.
Sie holte tief Luft und blinzelte. Im Zimmer war es dunkel, die Vorhänge waren vorgezogen, das Rumpeln der uralten Heizung übertönte das Gespräch der beiden Frauen. Ava konnte nur einzelne Fetzen verstehen.
»Schscht … sie müsste bald aufwachen …«, sagte die rauchige Stimme. Ava versuchte, sie einer Person zuzuordnen, und kam auf Demetria, Jewel-Annes griesgrämige Pflegerin. Obwohl sie noch keine dreißig war, trug die großgewachsene, hagere Demetria stets einen mürrisch-strengen Ausdruck zur Schau, der zu ihrem schwarz gefärbten, straff im Nacken zusammengefassten Haar passte. Ihr einziges Zugeständnis an die Launen der Jugend war eine Tätowierung, eine tintenblaue Ranke, die sich unter der breiten Schildpatthaarspange hervorringelte und hinter ihrem Ohr auslief. Das Tattoo erinnerte Ava an einen schüchternen Kraken, der vorsichtig einen Arm aus seinem Versteck hervorstreckte.
»Also, was gibt’s? Was ist los mit ihr?«, fragte die zweite, tiefere Stimme ein wenig barsch. Oh, mein Gott, gehörte sie tatsächlich Khloe? Ava verspürte einen Stich ob dieses Vertrauensbruchs. War es möglich, dass Khloe sie so hinterging? Sie wusste, dass die beiden Frauen über sie sprachen. Khloe war einst ihre beste Freundin gewesen, sie waren zusammen auf dieser abgeschiedenen Insel aufgewachsen. Doch das war schon Jahre her, lange bevor sich die frische, unbekümmerte Khloe in eine unglückliche Seele verwandelt hatte. Sie konnte einfach nicht ihre große Liebe vergessen, die bei einem Unfall so abrupt aus dem Leben gerissen worden war.
Weiteres Geflüster …
Natürlich. Es war fast so, alswollten die zwei, dass sie ihr Gespräch mit anhörte.
Ava bekam nur einzelne Fetzen mit, die ebenso zusammenhanglos wie wahr waren.
»… verliert langsam den Verstand …«Khloe?
»Das geht doch schon seit Jahren so. Armer Mr. Garrison.« Die rauchige Stimme.
Armer Mr. Garrison? Meinte sie das ernst?
Khloe, wenn sie es denn war, stimmte ihr zu. »Er leidet wirklich sehr.«
Wyatt? Leiden? Ach. Der Mann, der sich alle Mühe gibt, dir auszuweichen, weg ist, immer nur weg? Der Mann, von dem du dich bei mehr als einer Gelegenheit hast scheiden lassen wollen? Ava bezweifelte, dass ihr Ehemann auch nur einen einzigen Tag seines Lebens gelitten hatte. Am liebsten hätte sie sich bemerkbar gemacht, doch sie wollte hören, was die Frauen noch sagten, welcher Klatsch in den langen Fluren von Neptune’s Gate kursierte, diesem hundert Jahre alten Haus, errichtet und benannt von ihrem Ururgroßvater.
Neptune’s Gate – die Pforte des römischen Meeresgottes.
»Nun, etwas muss doch passieren, die sind doch reicher als Gott!«, murmelte eine der Frauen. Ihre Worte verklangen, als würde sie sich von der Tür entfernen.
»Um Himmels willen, sprich leise! Die Familie sorgt immerhin dafür, dass sie die bestmöglich