: Elizabeth George
: Keiner werfe den ersten Stein Roman
: Goldmann
: 9783641120276
: Ein Inspector-Lynley-Roman
: 1
: CHF 8.80
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: Spannung
: German
: 464
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Elizabeth George ist die Meisterin des englischen Spannungsromans.' New York Times
In den schottischen Highlands herrscht tiefster Winter, und Westerbrae, ein Country-House wie aus dem Bilderbuch, ist von der Welt abgeschnitten - ideale Voraussetzung für eine prominente Londoner Theatergruppe, um ungestört ein neues Stück zu proben. Doch schon am ersten Morgen wird aus den Proben tödlicher Ernst: Joy Sinclair, die junge Autorin, wurde kaltblütig erdolcht. Und die Ortspolizei weigert sich, die Untersuchungen zu übernehmen. Ein Fall für Inspector Lynley von New Scotland Yard, stammen doch fast alle Beteiligten aus den ihm wohlvertrauten, besten Kreisen der englischen Gesellschaft. Aber er findet nur Fragen ohne Antworten, unausgesprochene Geheimnisse und Halbwahrheiten. Zum ersten Mal gerät Lynley mit den Prinzipien in Konflikt, die für ihn selbst die Welt bedeuten: den festgefügten Regeln der Oberschicht, der Tradition, Stolz und Familienbande mehr bedeuten als ein Menschenleben. Immer tiefer gerät er in ein Labyrinth aus zwischenmenschlichen Beziehungen, die weit in die Vergangenheit und hinauf in höchste Regierungskreise reichen. Doch die bittere Wahrheit hinter der blutigen Scharade entdeckt erst seine Assistentin, der Adel, Konventionen und Privilegien von Haus aus zutiefst suspekt sind.

Der dritte Fall für Inspector Lynley.

Akribische Recherche, präziser Spannungsaufbau und höchste psychologische Raffinesse zeichnen die Bücher der Amerikanerin Elizabeth George aus. Ihre Fälle sind stets detailgenaue Porträts unserer Zeit und Gesellschaft. Elizabeth George, die lange an der Universität 'Creative Writing' lehrte, lebt heute in Seattle im Bundesstaat Washington, USA. Ihre Bücher sind allesamt internationale Bestseller, die sofort nach Erscheinen nicht nur die Spitzenplätze der deutschen Verkaufscharts erklimmen. Ihre Lynley-Havers-Romane wurden von der BBC verfilmt und auch im deutschen Fernsehen mit großem Erfolg ausgestrahlt.

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Gowan Kilbride, sechzehn Jahre alt, war nie ein begeisterter Frühaufsteher gewesen. Solange er auf dem Hof seiner Eltern gelebt hatte, war er morgens stets nur unter Murren aus dem Bett gekrochen und hatte jeden in Hörweite durch lautes Stöhnen und vielfältige Klagen wissen lassen, wie wenig dieses bäuerliche Leben seinem Geschmack entsprach. Als daher Francesca Gerrard, die jüngst verwitwete Eigentümerin des größten Landguts der Gegend, beschloß, ihr schottisches Herrenhaus in ein Hotel umzuwandeln, um wenigstens einen Teil der exorbitanten Erbschaftssteuern aufzufangen, bot Gowan ihr sogleich seine Dienste an,überzeugt, genau der richtige Mann zu sein, um bei Tisch zu servieren, an der Bar den Cocktailshaker zu schütteln und die Schar junger Damen im heiratsfähigen Alter zu beaufsichtigen, die sich zweifellos in Bälde als Zimmermädchen oder für den Service bewerben würden.

Leider alles nur schöne Phantasien, wie Gowan bald entdeckte. Noch keine Woche war er auf Westerbrae angestellt, als ihm klar wurde, daß der gesamte Betrieb des neuen Hotels in den Händen einer Vierermannschaft ruhen sollte: Mrs. Gerrard persönlich, einerältlichen Köchin mit allzuüppigem Haarwuchs auf der Oberlippe, Gowan und einem frisch aus Inverness eingetroffenen siebzehnjährigen Mädchen namens Mary Agnes Campbell.

Gowans Tätigkeit besaß gerade so viel Glanz, wie es seiner Stellung in dieser Hierarchie entsprach— praktisch keinen. Er war»Mädchen für alles«, ob es nun darum ging, den weitläufigen Park in Ordnung zu halten, die Zimmer zu fegen, die Wände zu malern, zweimal wöchentlich den altertümlichen Boiler zu reparieren oder die zukünftigen Gästezimmer zu tapezieren. Sehr ernüchternd für einen jungen Mann, der sich stets als kommender James Bond gesehen hatte! Die Unbilden des Lebens auf Westerbrae wurden einzig gemildert durch die ungemein verlockende Anwesenheit Mary Agnes Campbells.

Nicht einmal mehr das frühe Aufstehen war nach weniger als einem Monat Zusammenarbeit mit Mary Agnes eine Last, denn je eher Gowan morgens aus seinem Bett sprang, desto früher bekam er ja Mary Agnes zu sehen, konnte mit ihr schwatzen und ihren betörenden Duft atmen, wenn sie an ihm vorüberging. Und innerhalb von lachhaften drei Monaten waren alle Träume, in denen er als wodkaschlürfender Held mit einer Vorliebe für maßgefertigte italienische Faustfeuerwaffen fungierte, vergessen; verdrängt von der Hoffnung, ein sonniges Lächeln von Mary Agnes, einen Blick auf ihre hübschen Beine zu erhaschen, in diesem oder jenem engen Korridor im Vorübergehen wie zufällig ihren wohlgerundeten Körper streifen zu können.

All diese qualvollen süßen Hoffnungen waren berechtigt, ihre Erfüllung möglich erschienen, bis gestern die ersten Gäste auf Westerbrae eingetroffen waren: eine Gruppe Schauspieler aus London, die mit ihrem Produzenten, dem Regisseur und mehreren Gefolgsleuten gekommen waren, um einer neuen Produktion in gemeinsamer Arbeit den letzten Schliff zu geben. Das Erscheinen dieser Londoner Theatergrößen in Verbindung mit dem, was Gowan an diesem Morgen in der Bibliothek gefunden hatte, hatte die Erfüllung seiner Träume vollkommenen Glücks mit Mary Agnes schlagartig in weite Ferne gerückt. Darum machte er sich, nachdem er den zerknüllten Bogen Papier mit dem Briefkopf von Westerbrae aus dem Papierkorb in der Bibliothek gezogen hatte, unverzüglich auf die Suche nach Mary Agnes. Er fand sie allein in der großen Küche, wo sie die Tabletts für den Morgentee richtete.

Die Küche war von Anfang an Gowans Lieblingsaufenthalt gewesen, vor allem deshalb, weil sie im Gegensatz zu denübrigen Räumen des Hauses nicht in ihrer Eigenart gestört, nicht verändert und durch Renovierung verdorben worden war. Es bestand keine Notwendigkeit, sie dem Geschmack und den Vorlieben zukünftiger Gäste anzupassen. Die würden kaum hier hereinkommen, um eine Soße zu kosten oderüber die Qualität des Fleisches zu fachsimpeln.

Die Küche war also unverändert, immer noch genau so, wie Gowan sie aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte. Der alte Boden aus mattroten und cremefarbenen Fliesen, wie ein großes glänzendes Schachbrett. An einer Wand unter den eisernen Leuchten, die sich dunkel von der gesprungenen Kachelfläche abhoben, hingen wie eh und je Töpfe und Pfannen aus blitzendem Messing in langer Reihe an den Haken. Auf einem vierstöckigen Regal aus Fichtenholzüber einer der Anrichten stapelte sich das Geschirr für alle Tage, und darunter stand unter der Last von Geschirrtüchern und Spüllappen schwankend ein dreieckiges Trokkengestell. Auf den Fensterbrettern reihten sich tropische Pflanzen in Keramiktöpfen mit großen, palmwedelähnlichen Blättern— Pflanzen, die im eisigen Klima des schottischen Winters eigentlich hätten sterben müssen, in der Wärme der Küche jedoch prächtig gediehen.

Im Augenblick allerdings war der Raum noch eiskalt. Als Gowan hereinkam, war es fast sieben Uhr, aber der große Heizofen hatte die eisige Morgenluft noch nicht erwärmt. Ein großer Kessel dampfte auf einer der Herdplatten. Durch die Sprossenfenster sah Gowan die Rasenflächen, die sanft gewellt zum Loch Achiemore abfielen, nach den Schneefällen der vergangenen Nacht unter einer weißen Decke liegen. Normalerweise hätte ihn der Anblick vielleicht erfreut. In diesem Augenblick jedoch hinderte ihn selbstgerechte Entrüstung daran, irgend etwas anderes zu sehen als das hübsche Mädchen, das am Arbeitstisch in der Mitte der Küche stand und Deckchen auf die Tabletts breitete.

»Erklär mir das mal, Mary Agnes Campbell.« Gowans Gesicht wurde fast so rot wie sein Haar, und seine Sommersprossen verdunkelten sich merklich. Er hielt den zerknitterten Briefbogen hoch, den schwieligen Daumen genau auf dem Wappen von Westerbrae.

Mary Agnes’ unschuldsvolle blaue Augen streiften das Papier nur mit einem flüchtigen Blick. Nicht im geringsten verlegen ging sie in die Geschirrkammer und nahm Teekannen, Tassen und Untertassen von den Borden. Sie verhielt sich ganz so, als hätte eine ganz andere mit ungeübter Hand geschrieben, was da auf dem Briefbogen stand:»Mrs. Jeremy Irons, Mary Agnes Irons, Mary Irons, Mary und Jeremy Irons, Mary und Jeremy Irons mit Familie.«

»Was denn?« fragte sie und warf das lange rabenschwarze Haar in den Nacken. Ihr weißes Häubchen, das keck auf ihren dunklen Locken saß, rutschte dabei schrägüber das Auge. Sie sah aus wie eine reizende kleine Piratin.

Eben das war das Problem. Nie war Gowans Herz für ein weibliches Wesen so heiß entbrannt wie für Mary Agnes Campb