: Alexander Werner
: Carlos Kleiber Eine Biografie
: Schott Music
: 9783795791650
: 1
: CHF 14.40
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: Musik
: German
: 767
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Für viele ist Carlos Kleiber der bedeutendste Dirigent des ausgehenden 20. Jahrhunderts - mit Sicherheit ist er der problematischste. Aufgewachsen mit der Bürde des 'Übervaters' Erich Kleiber, rang er sein Leben lang mit seinem Anspruch auf Perfektion. Obwohl einer der meistgefragten Dirigenten, war die Zahl seiner Auftritte gering, seine offizielle Diskografie kurz. Der charismatische Garant musikalischer Sternstunden blieb dem klassischen Musikbetrieb ein Rätsel. Alexander Werner nähert sich dem 'Geheimnis Kleiber' über Gespräche mit Weggefährten, zahlreiche Original-Interviews und bislang unveröffentlichte Dokumente.

Alexander Werner, geboren 1961 in Karlsruhe, studierte Literaturwissenschaft und Geschichte, 1991-1995 Volontariat und Redakteur bei den Badischen Neuesten Nachrichten, ab 1995 bei Standpunkte, seit 2000 Chefredakteur des badischen Magazins Standpunkte mit Chrismon plus. Zahlreiche Beiträge über klassische Musik, Interviews und CD-Rezensionen in verschiedenen Organen, 1992 publizierte er 'Maximilian Werner und die badische Revolution 1849'.

Der Spätberufene: Lange Lehrjahre zwischen den Kontinenten


Berlin 1930: Geburt einer Legende


Eine Sensation erwartete niemand an diesem Winterabend im Hamburger Studio des Norddeutschen Rundfunks, aber ein interessantes Konzert, getragen von der Inspiration dreier hochmotivierter junger Talente. Ganz unbekannt waren die Solisten nicht mehr: Irene Güdel hatte als Cellistin und Lehrerin bereits einen Namen und auch der 21-jährige Oboist Heinz Holliger hatte bereits Beweise seines Ausnahmetalents bei internationalen Auftritten geliefert. Die ReihePodium der Jungen des Norddeutschen Rundfunks bot drei Künstlern, wie vielen anderen in den 21 Konzerten zuvor, die Chance, mit einem namhaften Orchester zu arbeiten, Erfahrungen zu sammeln,über den Rundfunk eine große Zahl von Hörern zu erreichen und ein bisschen Geld zu verdienen.

Bliebe noch der dritte im Bunde, der Gastdirigent: ein großer, hagerer, junger, ja jugendlich wirkender Mann. Vielleicht hätte man ihn mit seiner Ausstrahlung, den feinen Gesichtszügen, seinem offenen, sinnlichen Blick auf Anfang zwanzig geschätzt, sicher nicht auf dreißig, blendend aussehend dazu. Um diesen Dirigenten, der außerhalb des Podiums noch eine Brille und einen ordentlichen Scheitel trug, bemühte sich eineältere Dame– seine Mutter, in der Branche eine Frau mit Einfluss. Als diese am 7. Dezember 1960 fotografierte, wie ihr Sohn zum Dirigentenpult schritt, war dieser noch ein unbeschriebenes Blatt. Dass die Musiker trotzdem gespannter waren als sonst, hatte einen Grund, der dem jungen Dirigenten manch schlaflose Nacht bereitete. Sein Name war nämlich Kleiber, Carlos Kleiber, der Sohn des großen, des genialen Erich, an den man sich auch in Hamburg lebhaft erinnerte. Noch wurde Carlos vor allem als der Sohn seines Vaters gehandelt, für viele der bedeutendste Vertreter seiner Zunft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Paradoxerweise hemmten die Emigration, seine lebenslang konsequente, korruptionsferne und aufrechte Art, dann seine Ost-Berliner Episode und der frühe Tod Erich Kleibers angemessenen Nachruhm. Es ist leicht vorstellbar, was dies alles für seinen Sohn Carlos, seine Persönlichkeit, sein Selbstbewusstsein und seinen Ehrgeiz bedeutete. Doch Carlos schickte sich an, mit eisernem Willen und extrem hohen Ansprüchen an sich selbst aus dem Schatten desÜbervaters zu treten. 1960 war der vier Jahre zuvor verstorbene Vater das Maß für ihn und für andere. Carlos, der gerade ernsthaft seine Laufbahn als Dirigent in Angriff nahm, musste hinnehmen, dass wer auchüber ihn schrieb, dies nicht tat, ohne in Ehrfurcht des Vaters zu gedenken und den Sohn mit dem Vater zu vergleichen.

In der Spielzeit 1959/60 hatte Carlos Kleiber mit Gastspielen und seinem ersten Dirigat an der Deutschen Oper am Rhein einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum Kapellmeister geschafft. In Hamburg leitete er sein erstes bekanntes Konzert mit für ihn zeitlebens untypischem Repertoire. Nie wieder sollte er später Manuel de Falla oder Bohuslav Martin?, geschweige denn Komponisten wie Georg Philipp Telemann oder Carl Philipp Emmanuel Bach dirigieren. Dieses Konzert geriet kurioserweise im Nachhinein zur Sensation, letztendlich auch wegen des Interviews in der Pause, das Carlos Kleiber gab. Später bemühten sich Journalisten weltweit vergeblich, ihm nur ein paar Worte abzuringen. Dem NDR erschien einst weder das Konzert noch das zumindest privat erhaltene Interview archivwürdig. Wenngleich nur für wenige Minuten, so hört man ihn doch einmalüber sich, seine Arbeit und seinen Vater sprechen. Solche Originaltöne gibt es ansonsten nur von autorisierten und heimlichen Probenmitschnitten.

Kindheit und Jugend Carlos Kleibers verbergen sich, von einigen gut inszenierten Ausnahmen abgesehen, hinter den schützenden Mauern, die Erich Kleiber wie viele Prominente sich und seiner Familie verordnete. Carlos selbst brachte kaum Licht ins Dunkel. Indem er sich gegenüber Presse undÖffentlichkeit verweigerte, ließ er wenigüber sein Leben und seine Privatsphäre nach außen dringen. Wer ihn kannte, hütete sich meist, indiskret zu werden. Denn der eigenwillige Maestro war ebenso genial wie unberechenbar. In der Presse waren fast immer falsche Informationen zu finden. Er sei in Argentinien geboren, erzählte Carlos beispielsweise manchmal im Scherz. Viele glaubten ihm. Allerdings antwortete er 1960 auf die Frage bei dem Interview des Norddeutschen Rundfunks:»Wo sind Sie geboren?«–»In Berlin.« Und auf die Frage»30 Jahre alt, ja?« entgegnete Kleiber spontan und kurz»Jawohl!«

Carlos Kleiber, zwei Jahre jünger als seine am 28. März 1928 geborene Schwester Veronika, war das zweite Kind von Erich Kleiber, seit 1923 Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden, und der Kalifornierin Ruth Goodrich. Er wurde in Berlin-Dahlem am 3. Juli 1930 geboren. Musiker sucht m