: Erik Orsenna
: Cristóbal oder Die Reise nach Indien
: Verlag C.H.Beck
: 9783406630095
: 1
: CHF 8.40
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 318
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Als alter Mann erzählt Bartolomeo vom Traum des Kolumbus, der auch der seine wurde, von der fieberhaften Neugier der Seefahrer, die in der Neuen Welt in Grausamkeit umschlug– oder vielleicht von Beginn an den Keim dazu in sich trug.
Ein phantastischer, atmosphärisch dichter und leicht melancholischer Abenteurerroman. Das Tor zur Weltöffnet sich für den sechzehnjährigen Bartolomeo durch seine winzig kleine Handschrift. Unermüdlich trägt er für einen Lissaboner Kartographen die Orte auf jenen Karten ein, durch die sich die Welt zu einem neuen Bild formt. So fasst er Fuß in der weltläufigen Stadt der Mathematiker, Geographen, Schiffsbauer und Seefahrer, einem Schmelztiegel von Portugiesen und Genuesern, Juden und Arabern. Vom großen Wissensdrang der Zeit wird schließlich auch Cristóbal ergriffen; forschend und rechnend bereitet er mit dem Bruder acht Jahre lang die große Reise nach Indien vor. Der Erfolg ist bekannt. Doch wann verlor die Neugier ihre Unschuld? Warum, so fragt sich Bartolomeo im Rückblick, warum entdecken, wenn man am Ende diejenigen tötet, die man entdeckt?
Orsennas Roman ist getrieben von diesen Fragen und ist doch eine Hymne auf das Meer, die Seefahrt und die Sehnsucht aller Entdecker.



Erik Orsenna, geb. 1947, ist Schriftsteller, Mitglied der Académie Française, leidenschaftlicher Seefahrer, Präsident des Centre International de la Mer und Mitglied des französischen Staatsrates. Für L'Exposition coloniale wurde er mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, für Weiße Plantagen erhielt er den Lettre Ulysses Award.

Santo Domingo,
La Isla Española,
Weihnachten 1511,
im Palast des Vizekönigs
von Westindien

 

Dass ich erzähle, war nicht vorgesehen.

Träumen ist in unserer Familie Sache desältesten Bruders. Und dieser Traum wurde unantastbar. Ob wir wollten oder nicht, Cristóbal hat uns alle an Bord genommen.

Er wies jedem von uns eine Rolle zu.

Meine war es, ihm Tag und Nacht beizustehen.

Und zu schweigen.

Es wäre mir nie eingefallen zu protestieren. Wozu sich gegen ein Gesetz wenden, wenn das Gesetz das eigene Herz ist?

Ich habe gut daran getan einzuwilligen: So hat sich der Traum erfüllt.

Das Alcazar in der neu errichteten Stadt Santo Domingo soll an Sevilla erinnern. Der Palast ist aber lediglich ein großer Block aus grauem Stein am Ufer des kleinen Flusses Ozama. Kommen Sie ruhig näher, Sie haben nichts zu befürchten, und treten Sie ein. Die Wachen werden Sie kaum belästigen: Sie schlafen die meiste Zeit, und ihr Schnarchen beweist, dass sie sich der edlen Tätigkeit des Schlummerns rückhaltlos hingeben. Wenden Sie sich nach links und durchqueren Sie die beiden Kapellen, die große und die kleine. Dann stoßen Sie, abermals zu Ihrer Linken, die Tür auf. Sie werden glauben, ein Grabmal zu betreten, so leer und dunkel ist das Zimmer. Das ist die herrliche und düstere Wohnstatt, die der Vizekönig mir zugedacht hat. Der Vizekönig ist Diego, mein Neffe: Cristóbals einziger ehelicher Sohn.

Oft werde ich gefragt, welche unbegreifliche Kraft mich, Bartolomeo, eigentlich zwingt, noch länger auf dieser Insel zu bleiben. Warum muss mein letzter Wohnort Hispaniola sein und nicht einer jener Orte auf der Erde, an denen es zuverlässigere Lustbarkeiten, offensichtlichere Annehmlichkeiten und ganz gewiss bessereÄrzte gibt? Warum nicht Lissabon, Euer geliebtes Lissabon, oder das französische Loiretal mit seiner unvergleichlichen Sanftheit?

Je nachdem, wie die Tage sind, nehme ich einen der zahllosen Gründe, die mir diese Insel so lieb machen: die Vielfalt der Vögel, die neun Farben des Meeres, die Nähe der Berge, die Gewalt der Stürme, der umwerfende Duft der Frauen, die ebenso umwerfende Kühnheit der kleinen Mädchen und der Blumen, die sichüberall hindurchschlängeln und die unzüchtigsten Posen einnehmen…

Die Hauptsache verschweige ich.

Entgegen unserem jugendlichen Ehrgeiz haben Cristóbal und ich mit dieser Insel nicht das wahre Paradies entdeckt, das Paradies der Heiligen Schrift. Aber wir sind ihm denkbar nahe gekommen. Ich besitze noch genug klaren Verstand, um zu erkennen, dass die Wahl von Hispaniola zum Wohnsitz mich nicht vor dem Tod bewahrt, den ich mit großen Schritten nahen sehe. Ich weiß allerdings, dass ich mich hier wie nirgendwo sonst der anderen Flüche des Alters erwehren kann: des ständigen Fröstelns trotz Hitze; der grausamen Schmerzen in den Gelenken; der quälenden Fragen der Erinnerung.

Auf Hispaniola scheint jede Nacht die Erinnerung an den verflossenen Tag auszulöschen: Jede Morgenröte, dieüber dem noch ruhigen Meer heraufzieht, ist neu, rein, leicht. Keine Vergangenheit lastet auf ihr, ich meine, keine Verfehlung.

Wie die Erde ihre Abgründe hat, in denen das Leben nicht denselben Gesetzen folgt wie an der Oberfläche, so hat die Zeit ihre Löcher.

Mir fehlen die Gelehrten. Sie könnten mir dieses Phänomen erklären. Gewiss liegt es daran, dass die Stunden durch die Entfernung, unsere Lage am Rande des Abendhimmels, langsamer vergehen.

Soll ich das Geständnis wagen, dass ich in dieser Art von ständiger Gegenwart so friedlich lebe wie nie zuvor? Befreit von den Strapazen des Träumens, seit Cristóbal von dieser Welt geschieden ist, aber auch frei von Reuegefühlen, die das Heer meiner Sünden nach sich ziehen müsste.

An