: R. M. Douglas
: 'Ordnungsgemäße Überführung' Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg
: Verlag C.H.Beck
: 9783406622953
: 3
: CHF 11.50
:
: 20. Jahrhundert (bis 1945)
: German
: 556
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Bis heute zählt die durch Hitlers verbrecherisches Regime ermöglichte Vertreibung der Deutschen aus dem Osten Europas zu den umstrittensten Themen der deutschen Zeitgeschichte. Daher ist es wohl kein Zufall, dass die erste große historische Gesamtdarstellung nun von einem irischen Historiker vorgelegt wird.
„Geordnet und human“, sollte die Umsiedlung der Deutschen erfolgen, so hatte es das Potsdamer Abkommen festgelegt. Doch die Realität sah anders aus. In seinem gründlich recherchierten Buch rekonstruiert R. M. Douglas die verschiedenen Etappen der Massenvertreibungen, beschreibt den Archipel der Konzentrations-, Internierungs- und Sammellager für Deutsche, der in ganz Mittel- und Osteuropa nach dem Krieg entstand, und beleuchtet die Folgen, deren Schatten bis in die Gegenwart reichen. Dabei verwendet er deutsche Quellen nur, sofern sie durch andere Zeugnisse bestätigt werden, und konzentriert sich aufÜberlieferungen aus dem Archiv des Internationalen Roten Kreuzes, Beobachtungen westlicher Diplomaten, Offiziere und Journalisten sowie auf die Akten der ausweisenden Staaten selber. So entsteht eine Darstellung, die das Leid der Vertriebenen, die Gräueltaten an Deutschen und das moralische Versagen der Alliierten in ungewohnter Schärfe thematisieren kann ohne in den Verdacht der Einseitigkeit zu geraten. Vertreibungen laufen nie„geordnet und human“ ab, das ist die zentrale These dieses Buches. Ein flammender Appell gegen Völkerverschiebungen als Mittel internationaler Politik.



R. M. Douglas ist Professor für Geschichte an der Colgate University in Hamilton, New York.

EINLEITUNG


Jedes Jahr findet am Morgen des 1. September eine Zeremonie auf dem Munitionsdepot Westerplatteüber der Hafeneinfahrt von Gdańsk (Danzig) statt– an der Stelle, auf die das SchlachtschiffSchleswig-Holstein, das unter dem Vorwand eines Flottenbesuchs aus Deutschland gekommen war, 1939 die ersten Schüsse des Zweiten Weltkriegs abfeuerte. Zum 70. Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen nahm Angela Merkel 2009 mit anderen internationalen Politikern an der Gedenkfeier teil. Sie war als erstes bundesdeutsches Regierungsoberhaupt dazu eingeladen. Dies war an sich schon bedeutsam genug. Doch befand sich die Bundeskanzlerin darüber hinaus in einer besonders delikaten Lage, denn in Deutschland näherte sich der Bundestagswahlkampf seinem Höhepunkt. Viele Anhänger der CDU waren sich der Tatsache bewusst, dass Gdańsk nicht nur der Ort des ersten unprovozierten Angriffs des NS-Regimes auf einen Nachbarstaat war, sondern fünf Jahre später auch einer der Teile Ostdeutschlands, aus denen Millionen von Zivilisten unter großem Leiden und mit vielen Todesopfern vertrieben wurden. Angela Merkel sah sich damit vor dem scheinbar unauflöslichen Dilemma, potenziellen Wählern zu versichern, dass sie die Vertreibungen und ihre Folgen für Deutschland nicht vergessen habe, ohne ihre Gastgeber und die Weltmeinung an einem Tag zu brüskieren, der eher dem Andenken an polnisches als an deutsches Leid gewidmet war.

Ihre Lösung bestand darin, zwei sehr unterschiedliche Botschaften an ihre jeweiligen Zuhörer auszusenden. In einem ARD-Interview am Morgen erklärte die Kanzlerin, die deutschen Verbrechen während des Krieges seien gewaltig gewesen,«dennoch ist auch die Vertreibung von weitüber zwölf Millionen Menschen aus den Gebieten des ehemaligen Deutschlands und heutigen Polens natürlich ein Unrecht, und auch das muss benannt werden». Mehrere Stunden späteräußerte sie sich in ihrer Ansprache auf der Westerplatte in konzilianterem Ton zu dem Thema. Sie erkannte die alleinige Verantwortung Deutschlands für das zerstörerischste Kapitel der Geschichte Europas und der Welt an und sagte:«Der von Deutschland entfesselte Krieg brachte unermessliches Leidüber viele Völker– Jahre der Entrechtung, der Erniedrigung und der Zerstörung.» Das deutsche Volk erinnere sich zwar auch an das Schicksal jener, die nach dem Mai 1945 ihre Heimat verloren, doch sie versicherte ihren Zuhörern, dies geschehe nicht in der Absicht,«irgendetwas an der immer währenden geschichtlichen Verantwortung Deutschlands umschreiben zu wollen. Das wird niemals geschehen.»[1]

Einige Kommentatoren erwähnten den unterschiedlichen Tenor der beidenÄußerungen und waren der Meinung, beide seien zu einem so bedeutenden Anlass unpassend gewesen. Mehrere Zeitungen schrieben, die Tatsache, dass die Kanzlerin das Themaüberhaupt angesprochen habe, sei ein durchsichtiger Versuch, bei ihren Wählern zuhause Sympathiepunkte zu sammeln. Im Allgemeinen wurde Angela Merkels Gdańsker Ansprache aber im Inund Ausland gut aufgenommen. Man lobte sie weithin für das Geschick, mit dem sie sich auf einem Gebiet bewegt hatte, das für Deutschland wie für seine Nachbarn zu einem politischen Minenfeld geworden war. Sogar dieBerliner Zeitung, die in den meisten Fragen anderer Meinung war als die Kanzlerin, gestand ihr zu, sie habe für den Anlass«zwar die richtigen Worte gefunden, aber einige davon zum falschen Zeitpunkt ausgesprochen».[2]

Mit dem Hinweis auf die Sensibilität des Themas hatten die Kommentatoren sicher nichtübertrieben. Seit dem sogenannten Historikerstreit Mitte der achtziger Jahre, als Andreas Hillgruber versucht hatte, die Nachkriegsvertreibungen und den Holocaust als unterschiedliche Manifestationen desselben tiefliegenden und weitüber NS-Deutschland hinausreichenden Impulses zur ethnischen«Rationalisierung» Europas darzustellen, hatte die Frage auch in jüngerer Zeit ihr Konfliktpotenzial bewiesen. Glücklicherweise ist kein namhafter Historiker Hillgrubers irrigem Versuch gefolgt, den Ho