: Bart Moeyaert
: Graz
: Luftschacht Verlag
: 9783902844637
: 1
: CHF 8.90
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: Erzählende Literatur
: German
: 112
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Hermann Eichler führt die Apotheke seiner verstorbenen Eltern in Graz. Er macht das souverän, gibt zu jeder Pille einen guten Rat - so hat er es von seinem Vater gelernt - und kann an den verlangten Medikamenten die Jahreszeiten bestimmen. Nur wenn es um ihn selbst geht, weiß er nicht weiter und hat das Gefühl, nicht Herr über sein eigenes Leben zu sein. Bis eines Nachts vor seiner Tür ein Unfall passiert. Eichler sieht das Fahrrad liegen, dann das Mädchen daneben. Und er macht sich auf den Weg: durch die Stadt, hin zu einer radikalen Einsicht. Der Flame Bart Moeyaert, für seine Kinder- und Jugendbücher vielfach ausgezeichnet, legt mit Graz sein Prosadebüt für Erwachsene vor und lässt damit die Gattung der Novelle aufs Schönste aufglühen. Der Spaziergang Eichlers durch das winterliche Graz in einer Nacht aus Schnee und Wind und Licht gerät nicht nur zu einer Hommage an die Stadt, sondern auch zu einer Parabel über Erinnerung, Liebe, Einsamkeit.

Bart Moeyaert, geb. 1964 in Brügge. Er studierte Geschichte, Niederländisch und Deutsch in Brüssel. Moeyaert war Lyriker der Stadt Antwerpen, seit 2000 ist er Hauptdozent in Creative Writing am Königlichen Konservatorium in Antwerpen. Bart Moeyaert zählt zu den großen europäischen Kinder- und Jugendbuchautoren, seine Bücher sind vielfach preisgekrönt und in 20 Sprachen übersetzt, auf Deutsch sind sie im Carl Hanser Verlag und im Peter Hammer Verlag erschienen. Für den Roman Bloße Hände (dtv) erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis.

Zuerst sah ich das Fahrrad und dann das Mädchen. Sie lag auf dem Rücken, die Arme neben dem Kopf, als ob sie sich beim Fallen ergeben hätte, und die Beine lagen wie in einem Zeichentrickfilm, bereit zum Weglaufen. Der Hals hatte einen Knick. Das Gesicht zeigte in Richtung Hürlimann, doch die Augen waren geschlossen. Sie war tot, davon war ich überzeugt.

Ich legte die Hände auf meinen Mund. Zu meinem Entsetzen hatte schon jemand einen Strauß Rosen vor ihr niedergelegt. Dann musste ich mich über mich selbst ärgern, denn daneben lagen auch ein Netz Orangen, eine Packung Milch, ein in Plastik verpackter Kuchen, eine Schachtel Krapfen und ein Plastiksack, der nur nicht davonflog, weil noch etwas Schweres darin lag. Es waren Grand-Prix-Rosen aus dem Hause Pammer gegenüber der Oper, ich erkannte das am Papier.

Der Unfall musste in den Minuten passiert sein, die ich brauchte, um von meinem Arbeitstisch aufzustehen, meine Jacke anzuziehen, die Treppe hinunterzugehen. Ich machte mich auf, um spazieren zu gehen, sie fiel. Ein Leben ändert sich mit einem Fingerschnipp.

Ich drehte mich um und suchte in den Taschen meines kurzen Jäckchens nach dem Haustorschlüssel. Ich sollte wieder hineingehen, die Rettung rufen. Ich dachte, dass ich schnell reagierte, doch ich brauchte das Licht im Gang nicht mehr einzuschalten, jemand auf der Straße hatte die richtige Nummer schon gewählt. Ich hörte das Anschwellen der Sirene aus der Ferne. Gegenüber kamen Leute aus den Häusern, im Parkhotel an der Ecke lehnten sich Gäste über die Fensterbänke und hinter den Kellerfenstern bei Nummer vierzehn sah ich die halben Köpfe der Hürlimann Kinder, sie standen auf Zehenspitzen am Rand ihres Bettes, um etwas sehen zu können. Ihre Silhouette stach schwarz hervor.

Ich hielt mich am Türrahmen fest und blinzelte mit den Augen, da mein Gehirn nicht alles zugleich verarbeiten konnte. Ich sah das gefallene Mädchen, wie all die Leute sie jetzt sahen. Von weit weg, von oben, von der Seite, aus der Nähe, und was ich mir letztendlich vorzustellen versuchte, war, wie die Waisenkinder das Mädchen vom Kellerfenster aus sahen, so wie sie vor ihnen lag, auf Augenhöhe, das Gesicht in ihre Richtun