15. November
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EARLS COURT
LONDON
Thomas Lynley hätte sich nie träumen lassen, dass er einmal mitten unter zweihundert kreischenden Menschen– alle mit einem eher unkonventionellen Kleidergeschmack– in der Brompton Hall auf einem Plastikstuhl sitzen würde. Heavy Metal wummerte aus Lautsprechertürmen von der Größe eines Hochhauses am Strand von Miami. An einem Imbissstand hatte sich eine lange Schlange für Hotdogs, Popcorn, Bier und Erfrischungsgetränke gebildet. Eine Ansagerin rief in Abständen mit schriller Stimmeüber den Lärm hinweg den Spielstand und die Fouls aus. Und in der Mitte, auf einer mit Klebestreifen auf dem Betonboden markierten ovalen Bahn, rasten zehn behelmte Frauen auf Rollschuhen herum.
Angeblich war es nur ein Schauwettbewerb, dazu gedacht, die breiteÖffentlichkeit mit den Feinheiten des Flat Track Roller Derby als Frauensportart vertraut zu machen. Aber offenbar hatte man es versäumt, das den Spielerinnen mitzuteilen, denn die legten sich ins Zeug, als ginge es um Leben und Tod.
Sie hatten interessante Namen. Sie waren mit den dazugehörigen, angemessen furchteinflößenden Fotos in dem Programm ausgedruckt, das unter den Zuschauern verteilt worden war. Lynley hatte sich beim Lesen der Kampfnamen ein Grinsen nicht verkneifen können: Vigour Mortis, The Grim Rita, Grievous Bodily Charm.
Er war hier wegen einer der Spielerinnen, Kickarse Electra. Sie spielte allerdings nicht bei den Electric Magic aus London, sondern gehörte zum Team aus Bristol, einer Gruppe ziemlich wild aussehender Frauen, die sich den hübsch alliterierenden Namen Boadicea’s Broads gegeben hatten. Die Frau, die mit bürgerlichem Namen Daidre Trahair hieß, arbeitete als Großtierärztin im Zoo von Bristol, und sie hatte keine Ahnung, dass Lynley sich mitten unter den johlenden Zuschauern befand. Er wusste noch nicht, ob er es dabei belassen sollte. Vorerst verließ er sich ausschließlich auf sein Bauchgefühl.
Da es ihm am Mut gemangelt hatte, sich allein in diese unbekannte Welt vorzuwagen, hatte er einen Begleiter mitgenommen. Charlie Denton, der Lynleys Einladung, sich im Earls Court Exhibition Centre aufklären, fortbilden und unterhalten zu lassen, gern angenommen hatte, stand gerade im Gedränge am Imbissstand.
»Das geht auf mich, M’lord«, hatte er gesagt und dann hastig»Sir« hinzugefügt, eine Korrektur, die eigentlich längst nicht mehr nötig sein sollte. Denn Charlie Denton stand seit sieben Jahren in Lynleys Diensten, und wenn er nicht gerade seiner Leidenschaft für das Theater frönte und an Bühnen im Großraum London Vorsprechproben absolvierte, fungierte er als Butler, Koch, Flügeladjutant und Faktotum in Lynleys Leben. Er hatte an einem Theater im Norden von London den Fortinbras gegeben, aber das nördliche London war eben nicht das West End. Und so führte er tapfer sein Doppelleben fort,überzeugt, dass sein Durchbruch kurz bevorstand.
Jetzt amüsierte er sich geradeüber irgendetwas, das sah Lynley ihm an, als er sich seinen Weg zurück zu der Stuhlreihe bahnte, in der sie saßen. Vor sich her trug er ein volles Papptablett.
»Nachos«, verkündete Denton, als Lynley stirnrunzelnd etwas betrachtete, das aussah wie orangefarbene Lava auf einem Berg Tortilla-Chips.»Für Sie ein Hotdog mit Senf, Zwiebeln und Relish. Kein Ketchup, das sah mir ein bisschen verdächtig aus, aber das Lager-Bier ist gut. Lassen Sie’s sich schmecken!«
All das sagte Denton mit einem Funkeln in den Augen, aber es konnte auch das Licht sein, das sich in seinen runden Brillengläsern spiegelte, dachte Lynley. Denton wartete darauf, dass Lynley den angebotenen Imbiss ablehnte und sein wahres Gesicht zeigte. Und es amüsierte ihn, dass sein Arbeitgeber wie ein alter Kumpel neben einem Typen saß, dem der Bauchüber die weite Jeans quoll und die Dreadlocks bis auf den Rücken reichten. Lynley und Denton waren auf den Mann angewiesen, der sich Steve-o nannte, denn der wusste allesüber Flat Track Roller Derby– zumindest alles, was sich zu wissen lohnte.
Er sei mit Flaming Aggro liiert, hatte er ihnen strahlend erklärt. Und seine Schwester Soob gehöre zu den Cheerleadern, die sich in Lynleys Nähe in Stellung gebracht hatten und wesentlich zu der allgemeinen Kakophonie beitrugen. Die Damen waren ganz und gar in Schwarz gekleidet, aufgepeppt mit grell pinkfarbenen Tutus, Haarspangen, Kniestrümpfen, Schuhen oder Westen. Sie schrien ohne Unterlass»Break’em baby!« und wedelten mit ihren pink- und silberfarbenen Pompons.
»Toller Sport, was?«, sagte Steve-o immer wieder, während Electric Magic Punkte einheimste.»Die meisten Punkte macht Deadly Deedee-light. Solange sie keine Strafpunkte sammelt, haben wir den Sieg in der Tasche.« Dann sprang er auf und brüllte:»Gib Gas, Aggro!«, als seine Freundin inmitten des Pulks vorbeiraste.
Lynley zog es vor, sich Steve-o gegenüber nicht als Fan der Boadicea’s Broads zu erkennen zu geben. Es war purer Zufall gewesen, dass er und Denton unter den Fans von Electric Magic gelandet waren. Die Anhänger der Boadicea’s Broads saßen auf der gegenüberliegenden Seite des mit Klebeband markierten Rings. Auch sie wurden von Cheerleadern angefeuert, die ebenso wie ihre Kontrahentinnen ganz in Schwarz gekleidet waren, allerdings mit knallroten Accessoires. Sie schienen mehr Erfahrung im Geschäft zu haben,