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C:\Users\Walter\Dokumente\LukasSchule\TagebuchadMitteilungsheft
Sonntag, 10. 10.
„Wenn es Ihnen recht ist, werde ich am Mittwoch bei Ihnen erscheinen.“ Erscheinen! Habe ich das wirklich geschrieben? Mein Gott, Walter, da hast du ja eine hübsche Schleimspur gezogen . Aber was soll’s, du hast es für Lukas getan, für den würdest du noch ganz andere Sachen tun. Für Laura sowieso. Aber die braucht noch nicht viel. Die sagt noch Mami und Papi, zeigt brav auf, wenn sie etwas sagen will, und ist, wenn sie in der Früh aufsteht, neun von zehn Mal gut aufgelegt. Denn zwischen einem 9-jährigen Kind und einem 13-jährigen Kind liegen nicht vier Jahre, das will einen nur die Mathematik glauben machen, zwischen einem 9-jährigen Kind und einem 13-jährigen Kind liegen mindestens zehn Jahre. Mit 13 ist man offensichtlich dauersauer. Was im Fall von Lukas schon beim Aufstehen beginnt und letztlich eh auch wieder kein Wunder ist, wenn du jeden Tag bereits 0:3 im Rückstand liegst, bevor das Spielüberhaupt begonnen hat. Und Lukas hat zwar ein paar Kilos zu viel, aber eine dicke Haut hat er deswegen trotzdem nicht. Englisch– spanische Dörfer für ihn. Mathe– spanische Dörfer. Geometrie– Dörfer auf dem Mars. Lukas ist kein Sportler, Lukas ist kein Mathematiker, Lukas wird in diesem Leben auch nicht Architektur studieren, und wenn sich das Bine hundertmal von ihm wünscht.
– Glaub mir, Schatz, er muss als Architekt nicht gut zeichnen können. Vergiss Zeichnen. Das kommt später von allein. Er muss Ideen haben. Und Lukas hat Ideen. Er muss einen Blick für die Welt haben. Und Lukas hat einen Blick. Stimmt’s, Lukas?
– Ich weiß nicht, was du meinst, Mutter.
– Sag nicht Mutter, das mag ich nicht.
Findest du es zum Beispiel gut, dass das städtische Straßenbildüberall von Autos dominiert wird? Von hässlichen, stinkenden, lärmenden und auch noch die Umwelt belastenden Blechdingern, von denen jedes 20 Quadratmeter Platz braucht und nach jedem Halt eineinhalb Tonnen Eigengewicht in Bewegung setzen muss, nur um eine Person von sagen wir 80 Kilo von A nach B zu befördern?
– Aha. Und wie kommt diese Person sonst von A nach B?
– MitÖffis? Mit der U-Bahn? Mit der Straßenbahn, mit dem Bus?Öffis sind effizient, vergleichsweise sauber und erlauben einästhetisches Stadtbild. Straßen, Plätze, Hausfassaden, Menschen: All das wäre wieder sichtbar, wenn wir die Autos aus der Stadt verbannen würden. Autos sind scheiße. Aut…
– Und wieso haben wir dann zwei?
Um ehrlich zu sein: Ich habe null Ahnung, wofür Lukas talentiert ist. Dabei sollst du als Eltern schon in der Volksschule die Weichen stellen. Jetzt wieder bei Laura. Die Lehrerin am Elternabend zum vollzählig versammelten Publikum:„Fangen Sie damit an, die Weichen zu stellen. Achten Sie darauf, ob Ihr Kind eher sprachlich oder naturwissenschaftlich begabt ist.“ Ich dachte ja lange Zeit, der nächste Satz würde so lauten:„Danach entscheiden Sie, ob Sie es in eine neusprachliche oder naturwissenschaftliche Schule geben.“ Inzwischen weiß ich, wie der nächste Satz wirklich geht:„Sollte das der Fall sein, dann geben Sie es insGymnasium.“ Falls ein Kind nämlich irgendwo begabt ist, egal wo, gibt man es heutzutage auf ein Gymnasium. Falls es hochbegabt ist, auf das Hochbegabten-Gymnasium.
Lukas haben wir, als es so weit war, ins Normalbegabten-Gymnasium gegeben. Ich meine, trotz:„Achten Sie darauf, ob Ihr Kind eher sprachlich oder…“ Schwer darauf geachtet, leider keineBegabung erkannt, trotzdem Gymnasium. Und jetzt heißt esDurchkommen. Aber das war immer schon so. Gezählt hat immer schon nur eines: Durchkommen. Das war früher nicht anders:
– Gruber, so wirst du nicht durchkommen!
– Wie, so, Herr Professor?
– Indem du ununterbrochen störst.
– Ich hab den Gottfried nur gefragt, wie…
– Du sollst aber nichts fragen, wenn ich etwas erkläre. Mach mit– oder fall mir wenigstens nicht auf!
– Ja, Herr Professor.
Durchkommen heißt es allerdings nur auf der einen Seite der Front, auf der anderen Seite heißt es: Durchlassen. Und da kann einer durchkommen wollen, so viel er will, wenn auf der anderen Seite jemand sitzt, der ihn nicht durchlässt, hat er keine Chance. Wie hatte Sabine also letztens beim gemütlichen Abendessen unter dem Fernseh-Altar begonnen:„Lukas, wenn das mit dir so weitergeht, lässt dich die Söllner heuer nicht durch.“ Freitag, ca. 19.35 Uhr. Sabine, Laura, Lukas und ich bei Spaghetti Bolognese, Marie-Claire Zimmermann mit den Weltnachrichten am Bildschirm auf dem Fernseh-Altar:
– Wenn das mit dir so weitergeht, Lukas, lässt dich die Söllner heuer nicht durch.
– Wie, so weitergeht.
– Dass du nichts auf die Reihe kriegst. Hefte, Schreibzeug, Hausschuhe. Du weißt, was ich meine.
– Pscht!
– Nein, weiß ich nicht.
– Pscht jetzt bitte!
– Wieso besorgst du dir