: Jochen Schimmang
: Christian Morgenstern Eine Biografie
: Residenz Verlag
: 9783701743681
: 1
: CHF 11.70
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 280
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Seine Lyrik war subversiv, seine Übersetzungen werden bis heute gerühmt, seine 'Galgenlieder'zählen zu den populärsten deutschen Gedichten. Christian Morgenstern war einer der interessantesten Autoren seiner Zeit. Geboren im Jahr 1871, erlebte er eine Epoche der radikalen geistigen, technischen und kulturellen Umbrüche: den Eintritt in die Moderne. Zu seinen Generationsgenossen zählen Rilke, Hofmannsthal und Robert Walser. Morgensterns Werk reagierte in seiner Vielfalt und seiner Zerrissenheit auf eine Ära, die im raschen Wandel begriffen war. Jochen Schimmang wirft in seiner Biografie ein neues Licht auf Leben und Werk dieses bedeutenden Dichters.

Jochen Schimmang geboren 1948, lebt heute in Oldenburg. Er ist Autor zahlreicher Romane und unterrichtete am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Zuletzt erschienen: 'Das Beste, was wir hatten' (2009, Rheingau-Literatur-Preis 2010) und 'Neue Mitte' (2011, Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar 2012).

Prolog
»Meine Harmonie ist nur Balance«


Wer war Christian Morgenstern? Eben das wissen wir nicht. Der Mann, von dem manche Zeilen gleichsam kulturelles Gemeineigentum geworden sind– allen voran die, dass»nicht sein kann, was nicht sein darf« und dass die Möwen alle aussehen,»als ob sie Emma hießen«– und dessen Nasobēm es bis ins Lexikon geschafft hat und in der Folge die Zoologie sogar zur Kreation einer neuen Gattung anregte(Bau und Leben der Rhinogradentia von»Professor Harald Stümpke«1), ist merkwürdig schwer zu fassen. Von seinem engsten Freund Friedrich Kayssler haben wir eine recht plastische Beschreibung, wie er sich bewegte, dass er groß war, sportlich wirkte und den Kopf hoch trug (im buchstäblichen, nicht imübertragenen Sinne), sonst aber erscheint Morgenstern oft als hochvergeistigtes, fastätherisches Wesen, auch wenn Kayssler sich in seinen Erinnerungen ausdrücklich gegen dieses Adjektiv verwahrt. Von Morgensterns Sexualität etwa wissen wir wenig und nichts Genaues.Über seine späte Ehe mit Margareta Gosebruch von Liechtenstern heißt es, sie sei»eine Geistesfreundschaft vor allem anderen« gewesen, wobei wirüber»alles andere« im Unklaren gelassen werden. Natürlich kommt die Tatsache, dass er seit dem 23. Lebensjahr an der klassischen Künstlerkrankheit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts litt, der Tuberkulose, demätherischen Bild entgegen. Viele Fotos, die wir von ihm haben, zeigen schon einen Kranken.

Zurätherisch-ästhetischen Stilisierung der Person trägt sicher auch bei, dass Christian Morgenstern einer Künstlerfamilie entstammte, ja, geradezu einer Dynastie von Landschaftsmalern, und als Kind selber ebenfalls Landschaftsmaler werden wollte.»Christian Morgenstern, zukünftiger Landschafts-Maler«, ist der erste Brief des Siebenjährigen unterschrieben. Diese kindliche Vorstellung fiel jedoch in eine Zeit, in der gewissermaßen das Ende der Landschaftsmalerei schon eingeleitet worden war. Denn die Eckdaten von Morgensterns Leben sind so symbolisch aufgeladen wie bei vermutlich niemand anderem seiner Generation. Geboren im Jahr 1871, also im Jahr der Gründung des Deutschen Reiches, gestorben 1914, wenige Monate vor Beginn des Ersten Weltkriegs und dem Anfang vom Ende des Kaiserreichs. Demnach lebte er einerseits in einer der bis dahin längsten europäischen Friedensperioden, andererseits war er Zeitzeuge und Betroffener einerÄra des Aufbruchs, des rasanten technischen Wandels, der Industrialisierung, des Fortschrittsoptimismus und der Erstarkung des Bürgertums selbst in deutschen Landen, trotz der herausragenden Rolle, die das ostelbische Junkertum und das Militär im wilhelminischen Deutschland bis zum bitteren Ende spielten.

Es war also nicht mehr die Zeit der Landschaftsmalerei. Sie hatte aufgrund der Urbanisierung ihren Stellenwert verloren. Und Christian Morgenstern, im noch eher beschaulichen, aber durchaus schon großstädtischen München geboren, ging schon mit 23 Jahren nach Berlin, wo ihm die Folgen dieser Urbanisierung nicht verborgen blieben. Dessen Einwohnerzahl hatte sich zwischen dem Jahr von Morgensterns Geburt und dem seines Zuzugs etwas mehr als verdoppelt und