Erben
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Martina Bilke
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Sonia Lauinger
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Erben
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Der Kleine Buch Verlag
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9783942637343
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1
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CHF 4.50
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Erzählende Literatur
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German
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232
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Wasserzeichen
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PC/MAC/eReader/Tablet
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ePUB
'Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit.' (Karl Kraus) Kurz vor Weihnachten stirbt überraschend Tante Leni in Leipzig. Die Aussicht auf das stattliche Erbe der alten Dame weckt Begehrlichkeiten bei Angehörigen und Freunden. Träume von einer besseren Zukunft, von Wohlstand und ausgleichender Gerechtigkeit - wer hat die nicht? In den Familien Rothermund und Wünsche brechen angesichts der potenziellen Erbschaft Hoffnungen auf und treiben beklemmende, tragikomische Blüten. Als aus der Wohnung der Toten wertvolle Gegenstände spurlos verschwinden, misstraut jeder jedem. Vermeintlich stabile Familienstrukturen bröckeln. Nach der Testamentseröffnung spitzt sich die Lage weiter zu, der Kampf der Erben beginnt. Schwestern gegen Brüder, Cousins gegen Cousinen, Nichten und Neffen gegen Tanten - quer durch die Familien verlaufen die Fronten. Fanni Wünsche rechnet sich als Patenkind der Erbtante größere Chancen aus und wiegt sich in Sicherheit. Andere dagegen verlieren ihre Interessen nie aus den Augen und helfen der Gerechtigkeit gerne etwas nach. Lange schwelende Konflikte entzünden sich an dieser Erbschaftsangelegenheit, bei der Bäume unvermutet eine wichtige Rolle spielen.
Nach Oberfranken, Freiburg, Mainz, Wien und Caracas bekennende Karlsruherin mit immerwährendem Hang zum Schreiben tragikomischer Texte.
Der Leipziger Südfriedhof ersoff in Schnee.
Die Flocken fielen, fielen wie von weit und der Himmel lastete und drückte und senkte sich über die Parklandschaft. Schneefahnen wehten herab im Wind, trostlose arme Seelen. Sie breiteten sich über Gräber und Wege, wickelten sich um Bäume, die mit schwarzen Ästen in den Himmel stachen, legten Decken über Straßen und Wege, rollten Teppiche aus in die Ewigkeit. Ein dunkler Fleck von Menschen sammelte sich im beziehungslosen Weiß. Einzeln waren sie aus dem kleinen Blumenladen herausgetreten, wo sie, Mann um Mann, Frau um Frau, jeder ein Sträußchen von drei mit etwas Tannengrün zusammengebundenen Rosen gekauft hatten als letzten Gruß an die ganz unerwartet dahingegangene Erbtante Leni. Der eine hatte sich für ein zartes Gelb, der andere für ein dunkles Rot entschieden. Ein Dritter hatte sich nicht entschließen können und war bei einem Farbton zwischen Lachs und Rosa hängen geblieben. Wieder ein anderer wollte dem Anlass so gerecht werden wie der Winterhimmel und hatte Weiß gewählt. Hier war der Ort, wo man in die Ewigkeit investierte.
So standen sie beisammen mit ihren Sträußchen, Figuren in einem Spiel, dessen Ausgang ungewiss war.
Vor ihnen erstreckte sich die unermessliche Allee, die zu der weit entfernten Aussegnungshalle führte, hinter dem stetigen Flockenfall erahnte man ihre Umrisse.
Fanni Wünsche, das Patenkind der Verstorbenen, und ihre Cousine Doris Rothermund trafen gegen halb ein Uhr ein, chauffiert von ihrem Vetter Klaus, der einem anderen Zweig der Sippe entstammte und sie auch schon in die Innenstadt begleitet hatte. Sie kamen vom Amtsgericht, wo ihnen als Stellvertreterinnen ihrer beider Familien an eben diesem Vormittag Leni Bertolds Testament eröffnet worden war.
Als die drei aus dem Wagen stiegen, gab es die familienübliche Begrüßung, Küsschen hier, Küsschen da, Küsschen dort. Die Gesellschaft bildete Grüppchen, die nacheinander den langen Weg zur Trauerfeier antraten, endlos dehnte sich die weiße Straße. Ebenso weit zog sich die Schar der trauernden Verwandtschaft auseinander, wie Fanni bemerkte, als sie sich einmal umdrehte.
Fannis Schwester Mona und ihre Cousine Doris blieben immer wieder stehen, zwischen sich die greise Mutter und Tante Hertha Rothermund. Von beiden Seiten her versuchten sie ihr vermutlich gerade beizubringen, in welch unerwarteter Erbengemeinschaft sie sich nun befand.
Denn entgegen allen Erwartungen war ihr als der nächsten Anverwandten Lenis und folglich Hauptleidtragenden nur ein Drittel des Erbes zugefallen. Das Gesamterbe musste sie sich mit dem Lebensgefährten und darüber hinaus noch mit einem Jugendfreund Lenis teilen, die der Verstorbenen während der DDR-Zeit in Leipzig zur Seite gestanden hatten, also fast ihr ganzes Leben lang. Die weitläufige Westverwandtschaft hingegen hatte den Kontakt zu ihr mit Briefen, Karten und Päckchen gehalten und an den Weihnachtsfeiertagen eine Kerze ins Fenster gestellt.
Fanni führte mit Beate den Zug an, der in der weißen Ewigkeitswatte nicht vorwärtszukommen schien. Sie waren unschwer als Schwestern zu erkennen. Beide waren etwa gleich groß und hatten ehemals braune krause Locken, die jetzt von grauen Strähnen durchzogen waren, vor allem bei Beate überwog schon das Weiß. Fanni zog sich im Gehen die Kapuze ihres Mantels über den Kopf und drängte voran. Sie fror und wollte nach ihrer glücklosen Odyssee durch das Labyrinth des Amtsgerichts endlich irgendwo ankommen, und sei es am Grabe.