: Friedrich Christian Delius
: Die linke Hand des Papstes
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644115613
: Delius: Werkausgabe in Einzelbänden
: 1
: CHF 9.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 128
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Rom 2011. Ein deutscher Archäologe und Fremdenführer entdeckt in einer evangelischen Kirche zufällig den Papst - und gibt sich einem Wirbel von Fragen und Gedanken hin: Wann zuckt die Hand des Papstes, wann nicht? Bewegt sie sich, wenn er den regierenden Schurken sieht? Warum schmeichelt der libysche Diktator dem italienischen Regierungschef mit dreißig Berberpferden, und warum musste Augustinus den Kaiser mit achtzig numidischen Zuchthengsten bestechen, um die Erfindung der Erbsünde durchzusetzen? Weshalb ist Rom für die Deutschen ein Sehnsuchtsort, obwohl sie dort seit den Germanen, Landsknechten und Nazis als die schlimmsten Barbaren gelten? Eine Kölner Katholikin wäre gern Erzbischöfin, ein Mörder verschenkt das Pantheon, Ratten laufen über die Via Veneto - der Fremdenführer schaut hinter das Postkarten-Rom, streunt durch die Geschichte und preist die Kunst der Italiener, gleichzeitig ja und nein zu sagen. Eine Erzählung über das rätselhafte, herrliche, abgründige Rom der Gegenwart - und eine moderne Legende: wie der Papst zum Lutheraner wurde.

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

Ich blieb konzentriert als Beobachter der Schreibhände, die so viel bewegen könnten auf der Welt und sich jetzt nicht bewegten, und hatte gleichzeitig die linke Hand des Apoll vor Augen, des Verführers, des Möchtegern-Vergewaltigers. Die berühmte Skulptur, gemeißelt, geschlagen, geschliffen während des Dreißigjährigen Krieges, als Rom kräftig mitwirkte, Deutschland zu vergewaltigen – eine der sonderbaren Gleichzeitigkeiten, eine der Quizfragen ohne Antwort: Was haben Apoll und Daphne mit dem Dreißigjährigen Krieg zu tun? Hände, die sogleich die nächste Frage weckten, ob es richtig war, was ich mir gemerkt hatte, dass weder die Schreibhände des zehnten Innozenz, die Velázquez gemalt hatte, noch die seiner Nachfolger den Westfälischen Frieden von1648 unterzeichnet und anerkannt hatten, die römische Kirche folglich seit mehr als dreihundertfünfzig Jahren mit den Deutschen im Kriegszustand lebte.

 

Da tauchte, da platzte die passende Erinnerung auf – endlich wusste ich, weshalb ich schon in der ersten Sekunde unserer distanzierten Begegnung gedacht hatte: die Hände, was ist mit den Händen? Nun begriff ich, warum ich so fixiert darauf war. Schon einmal hatte ich meine Einbildungskraft auf sie gerichtet, gerade ein halbes Jahr war das her, als ich, vor dem Fernseher, lange überlegt hatte, ob diese Hände, ob die rechte päpstliche Hand, ich vermutete stets einen Rechtshänder in ihm, noch zu einer Ohrfeige fähig wäre. Oder zu einem Zucken, das, unbeherrscht fortgesetzt, zu einer Ohrfeige führen könnte oder wenigstens zu einer spontanen, sofort wieder abgebremsten Bewegung. Oder ob die Würde des Amtes oder die Müdigkeit des Alters oder eine schwer in den Gliedern wuchernde Mutlosigkeit nicht nur jeden solcher Reflexe verboten, sondern auch den bloßen Gedanken an solche Reflexe eingeschläfert hatte.

 

Ein halbes Jahr zuvor, als der Öldiktator von der anderen Seite des Meeres nach Rom gekommen war, zum vierten Staatsbesuch innerhalb eines Jahres, um mit dem hier regierenden Diktatorenfreund die unverbrüchliche Freundschaft zu feiern und Geschäfte abzuschließen, schwer durchschaubare Staatsgeschäfte und Privatgeschäfte, als der Öldiktator und islamische Laienprediger das Christentum und die Kirche in burschikoser Art verhöhnt hatte, die selbst einem anständigen Ketzer zu weit ging, da hatte ich, vor dem Fernseher sitzend, an eine impulsive Bewegung der päpstlichen Hände denken müssen. Eine Ohrfeige nicht für den Gast, das gehörte sich nicht, sondern für den Gastgeber, der seinen Kumpel aus der Wüste von morgens bis nachts vor Mikrofonen und Kameras mit Komplimenten überschüttete.

 

Wie hatte der Mann, der neben mir auf der Marmorbank saß, vor einem halben Jahr die Nachricht aufgenommen, überlegte ich jetzt noch einmal, dass der regierende libysche Hurenbock anlässlich seines Staatsbesuchs beim regierenden italienischen Hurenbock, wie man sagen musste, wenn man die Sprache der Selbstzensur und der Diplomatie meiden und sich die Nähe zur Wahrheit leisten wollte, zehn Busse voll junger Mädchen gemietet und in den Garten seiner Botschaft vor sein Zelt bestellt hatte? Schön und verschwiegen hatten sie sein müssen, hieß es, und mit achtzig Euro zufrieden für die Statistenrolle bei einer Koranlektion, die ihnen der Diktator persönlich erteilt und drei der jungen Mädchen, mit oder ohne Geldbeihilfe, dazu gebracht hatte, zum Islam zu konvertieren.

 

Nicht allein diese Mission und die Konversion selbst dürfte den Papst und seine Berater aufgeregt haben, sondern, so schätzte ich, die neue Form religiöser Prostitution, die Tatsache, dass sich in der Hauptstadt der Christenheit auf Anhieb einige hundert junge Frauen fanden, die sich für den Preis eines Töpfchens Tagescreme und eines Lippenstifts als Komparsen für das Anwerbungsgeschwätz eines predigenden Wüstlings hergaben. In den päpstlichen Gemächern, stellte ich mir vor, mussten die uralten Fragen wieder aufgestiegen sein: wie heilig die heilige Stadt Rom noch, wie sündig das Sündenbabel a