: Friedrich Christian Delius
: Adenauerplatz Werkausgabe in Einzelbänden
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644036116
: Delius: Werkausgabe in Einzelbänden
: 1
: CHF 9.00
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Deutsch-Chilene Felipe Gerlach lebt als politischer Flüchtling in einer bundesdeutschen Großstadt. Er hat einen Job als Hilfswachmann bei der Firma «Secura»: Unverdrossen läuft er rund um den tristen Adenauerplatz, prüft verschlossene Ladentüren und hält Ausschau nach verdächtigen Personen. So auch in dieser Nacht, in der der Roman spielt. Felipe versucht nach vorn zu blicken. Die Chancen der Rückkehr, die Möglichkeiten einer Einbürgerung im 'ewigen Manövergebiet Deutschland', die Tragfähigkeit der Liebe zu seiner deutschen Freundin und der kleine Kampf gegen den Südamerika-Spekulanten Ellerbrock werden vom Autor in immer überraschenderen Wendungen durchgespielt. So wird aus dem vielschichtigen, suggestiven Großstadtroman, aus dem Nachtbuch 'Adenauerplatz', unversehens eine verhaltene Liebesgeschichte und ein diskreter Kriminalroman. «280 Seiten gespannt, gerührt, zornig, atemlos.» (Die Zeit)

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

Serenade


Die Rekruten standen aufrecht, sie waren nicht verletzt. Gesund, tauglich, wehrbereit, die Augen geradeaus. Sie hatten die ersten Geländeübungen hinter sich, ihr Kreislauf hatte schon einen Marsch mit Sturmgepäck ausgehalten. Sie hatten allen Schlamm abgeduscht, sie hatten Gehorsam bewiesen, sie ließen sich vorzeigen. Sie hatten Handschuhe an, sie waren feine Herren jetzt. Die feinen Herren schossen nicht, sie standen still, sie standen stramm, Paradeaufstellung im Flutlicht. Die Stiefel drückten den Stadionrasen platt. Sie rissen keine Löcher wie die Fußballstollen oder die Speere der Leichtathleten. Die feinen Herren schonten das Gelände, sie hatten keine bösen Absichten. Eine Feierstunde war zu überstehen, ein Eid nachzusprechen. Das Heeresmusikcorps spielte eine Serenade, die Blechbläser waren gut besetzt. Die Zuschauer klatschten Beifall, und die Soldaten rührten sich nicht. Ein Offizier in leuchtendem Grau trat vor, stolzierte aber nicht wie ein Ordensgockel, sondern suchte mit Schlichtheit zu überzeugen, noch ehe er ins Mikrophon sprach.

Anke Hennig sah der Schau abschätzig zu. Sie suchte das Gesicht ihres Bruders, den man zum Rekruten gemacht hatte. Unter den Baskenmützen waren die Köpfe alle ähnlich, nur durch die Schnurrbärte und die Farbe der Haare unterschieden. Sie konnte den Bruder nicht finden unter den Vorderleuten. So viele Soldaten hatte sie noch nie auf einem Haufen gesehen, und wie waren sie starr, steif, käsig! Durch das Stadion bellte die Lautsprecherstimme des Kompaniechefs. Anke war freiwillig gekommen. Sie war nicht scheu, sie wollte das Spektakel einmal aus der Nähe betrachten, die letzte Reihe der Tribüne war ihr nahe genug.

Was stellte man mit diesen Jungens an, die das Strammstehen so bescheuert fanden wie ihr Bruder? Auch Wolf Hennig wollte kein Soldat werden. Er war Jugendvertreter in seinem Betrieb, Metaller, er kannte genug Argumente gegen Rüstung und Soldaten, aber er weigerte sich, den Wehrdienst zu verweigern. Zuerst hatte er gesagt, die Demokratie müsse verteidigt werden trotz allem. Ja, aber ausgerechnet in der Kaserne? Daraufhin hatte er behauptet, er wolle nicht kneifen, er sei kein Feigling, er gehe mit seinen Kollegen. Okay, der Arbeiter tut, was man von ihm erwartet, und zwar solidarisch. Du hast gut reden, Schwester. Schließlich hatte sie herausgefunden, dass Wolf auf keinen Fall den toten Opas die Scheiße wegwischen wollte, wie er sagte, die Spastis füttern oder Kindermädchen spielen. Die Angst vor den Kranken und Alten, die war es, die Angst der Achtzehnjährigen vor dem Tod war das stärkste Motiv, Soldat zu werden trotz allem. So kamen die Kompanien zusammen. Aber es fehlte etwas. Der Kompaniechef musste sich anstrengen, er hob die Stimme. Eben nicht Kadavergehorsam ist gefragt, sondern Treue, die letzten Endes Treue zu sich selbst bedeutet. Was für Worte! Kadavergehorsam, was dachten sich diese Männer dabei, wenn sie solche Wörter ins Mikrophon brüllten, dachten sie an Kadaver? Und Treue? Als ginge es hier um einen Ehevertrag. Mit welchem Staat sollten diese Burschen schon fremdgehen? Sich dem Staat verpflichten irgendwie, das ließ sich noch einsehen. Aber Treue zu sich selbst, letzten Endes? Der Kompaniechef, zwischen Ziersträuchern in Kübeln, hatte gut reden. Er bestimmte, was Treue sein sollte im Ernstfall, und wenn die Vorgesetzten des Vorgesetzten entschieden, dann wurde nicht mehr von Treue geschwafelt.

Sie wusste, auch ihr Bruder konnte bei solchen Sätzen nur wütend werden. Unruhig war er bestimmt schon. Er war Fußballer, Stürmer, er brauchte Bewegung, er hasste das Strammstehen. Eine Tortur, jemanden wie ihn ausgerechnet auf einem Fußballplatz stillstehen zu lassen, länger als eine Stunde, zwei Halbzeiten lang. Ein milder Septemb