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Jeden Tag wartete Martin auf ein Wunder. Das Wunder kam nicht, von allein kam es nicht. Langbeinig musste das Wunder sein, schön, nicht dumm, einen Rock tragen und einen Stummen verstehen. Es gab solche Mädchen auch in Berlin, aber wo sie finden, wie sie gewinnen, jeden Tag kreuzten die gleichen Fragen durch die Gedanken. Der einzige Trost blieben Franziska und Ellen, die ihn beide abwechselnd anzogen und wegstießen und ermunterten, seine Werbungen fortzusetzen.
Er klingelte an der Haustür bei Franziska, er war mit ihr verabredet, doch das bedeutete nicht viel. Sie hasste Uhren und Termine, sie hielt ihn oft bis zum letzten Moment im Unklaren, ob ihre Gefühle oder Pläne noch zu dem passten, was einige Stunden oder Tage vorher abgemacht war.
Sie öffnete nicht, er klingelte noch einmal. Jedes Treffen mit ihr war Glücksache, und wenn es gelang, wusste er vorher nicht, wie lange er in ihrer Nähe bleiben durfte. Manchmal erschien sie nur auf einen Wink und entschädigte ihn mit einem entschuldigenden Lächeln. Es ärgerte ihn, wie schnell sie ihn wieder versöhnlich stimmte, und es freute ihn, dass sie jede Enttäuschung mit der Aussicht auf künftige, bessere Momente zu heilen verstand. Nach und nach hatte er begriffen, dass die fröhliche Unberechenbarkeit zu ihren Reizen gehörte, besonders für einen, dem der GroßvaterspruchFünf Minuten vor der Zeit ist des Preußen Pünktlichkeit in den Kopf gemeißelt war.
Im Haustürschloss schnarrte es, er lief drei Stockwerke hinauf, der rote Läufer versprach Glück für den Abend. Die Wohnungstür weit geöffnet, Franziska stand davor, er sah zuerst ihre Beine, den engen schwarzen Rock. Er trat ein, er war willkommen, sie reichten sich die Hände wie Geschwister. Das Gesicht offen, die dunkelgrüne Bluse bis auf den obersten Knopf geschlossen.
Seine Begrüßung hätte stürmischer sein können, aber er wollte nicht wieder von der Erfahrung gekränkt werden, dass die Freundin die Schultern hochzog und in Abwehrstellung ging. Also hielt er Abstand. Er blieb scheu, in jungenhafter Ehrfurcht vor ihrer Schönheit und dem langen blonden Haar, das ihr weit über die Schulter wuchs. Sie band es nicht zusammen, steckte es selten hoch, trug es offen wie einen breit ausgelegten Schmuck um Kopf und Oberkörper, fast wie ein Schutzschild gegen unerwünschte Annäherungen. Mit dem Haar bannte sie die Männer und entrückte sich selbst wie in eine Ikone. Fall auf die Knie!, bete sie an! Nein, lieber erstarrte er in der Furcht, mit einem heftigen Gefühl, mit falscher Zudringlichkeit das Bild Franziska zu zerstören. Seine Taktik hieß: auf den richtigen Augenblick warten, aufmerksam sein, irgendwann kommt sie dir entgegen.
Sie zog sich zur Kosmetik ins Bad zurück und begann, als habe sie seit Stunden auf einen Gesprächspartner gewartet, hinter der angelehnten Tür zu erzählen. Von einem Zirkus, einer Trapezkünstlerin sprach sie, die zu ihr in die Buchhandlung gekommen sei und sich für ungarische Literatur interessiert habe,56 aus Ungarn geflohen, «was für eine tolle, tiefe Stimme und so ein sanfter, habsburgischer Akzent!», morgen werde sie die Artistin im Zirkus sehen. «Wieder eine Schwester für dich», sagte Martin, als sie mit der Puderdose aus dem Bad kam.
Selbst in ihrer Wohnung war sie ständig auf dem Sprung, mit ihr gab es keine ruhige Minute. Er beobachtete ihre geschmeidigen, fahrigen Bewegungen. Sie trat näher, um ihre Geschichte weiterzuerzählen. Ihre Sätze untermalte sie mit weiträumigen Gesten, hüpfte mit tänzelnder Ironie zum nächsten Erlebnis, verschwand wieder im Bad, berichtete von ihrem letzten Tennisspiel gegen einen Mann von der Commerzbank, während sie mit dem Lidstift in der Hand schon wieder in der Wohnung auf und ab lief, sich auf die Zehen stellte und dann in flachen Schuhen ihren Panthergang fortsetzte. Man hätte sie für nervös oder hektisch halten können, wenn sie nicht zugleich den Eindruck großer Beherrschtheit und Souveränität gemacht hätte. Sie arbeitete in der besten Buchhandlung am Kurfürstendamm und war berühmt für die mit schwarzer Tinte geschriebenen Bemerkungen zu den ausgeschnittenen Rezensionen der neusten Bücher in den Schaufenstern.
Martin