: Dalai Lama
: Das Buch der Menschlichkeit Eine neue Ethik für unsere Zeit
: Verlagsgruppe Lübbe GmbH& Co. KG
: 9783838749174
: 1
: CHF 7.10
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: Spiritualität
: German
: 255
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Wer wäre berufener als der Dalai Lama, 'eine der faszinierendsten Gestalten des 20. Jahrhunderts', uns zu Beginn des neuen Jahrtausends Perspektiven für ein erfülltes Leben aufzuzeigen? Denn trotz des Wohlstands sind viele Menschen gerade in der westlichen Welt mit ihrem Leben unzufrieden, suchen eine neue innere Ruhe, die mit Konsum und Luxus nicht zu erlangen ist. Schritt für Schritt zeigt der Dalai Lama, wie man sich auf positive menschliche Eigenschaften und Werte wie Einfühlungsvermögen, Gemeinschaftssinn und Aufrichtigkeit zu besinnen lernt und schließlich wieder zu einer neuen Ethik des Handelns findet.

1.
Die moderne Gesellschaft und die Suche nach dem menschlichen Glück


Ich betrachte mich, im Vergleich zu anderen Menschen, als Neuling in der modernen Welt. Und obwohl ich schon 1959 aus meiner Heimat fliehen mußte und mich mein Leben als Flüchtling in Indien seitdem viel enger mit der gegenwärtigen Gesellschaft in Verbindung gebracht hat, verlebte ich doch, im Hinblick auf die Realität des 20. Jahrhunderts, meine prägenden Jahre weitgehend ohne Außenkontakte. Das ist zum Teil auf meine Ernennung zum Dalai Lama zurückzuführen: Ich wurde dadurch schon in jungen Jahren zum Mönch. Auch spiegelt sich darin der Umstand wider, daß wir Tibeter uns, was in meinen Augen ein Fehler war, dafür entschieden hatten, hinter den hohen Bergketten isoliert zu bleiben, die unser Land von derübrigen Welt trennen. Heute dagegen reise ich sehr viel, und zu Hause wie im Ausland habe ich das Glück, immer wieder neue Menschen kennenzulernen.

Mehr noch: sehr unterschiedliche Menschen kommen zu mir. Viele von ihnen – besonders jene, die sich die Mühe machen, bis in die Hügel meines indischen Exilorts Dharamsala zu reisen – sind auf der Suche nach etwas. Unter ihnen sind Menschen, die schweres Leid durchmachen: Manche haben ihre Eltern oder Kinder verloren, bei anderen hat ein Freund oder Verwandter Selbstmord begangen, wieder andere leiden an Krebs, AIDS oderähnlichem. Und dann sind da natürlich auch meine tibetischen Landsleute, ein jeder mit seiner eigenen Geschichte von Not und Elend. Leider gehen viele Menschen von ganz unrealistischen Vorstellungen aus: Sie glauben, daß ich heilende Kräfte besitze oder so etwas wie einen Segen erteilen könnte. Doch ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Mensch. Ich kann lediglich versuchen, ihnen zu helfen, indem ich ihr Leid teile.

Die unzähligen Leute aus aller Welt, die ich kennenlerne und die aus allen Schichten und Berufen kommen, erinnern mich immer wieder daran, daß uns alle die Gemeinsamkeit verbindet, menschliche Wesen zu sein. Je mehr ich von der Welt sehe, um so deutlicher wird mir, daß wir uns alle nach Glück sehnen und Leid vermeiden wollen – ganz gleich, in welcher Lage wir uns befinden, ob wir reich oder arm, gebildet oder ungebildet sind, dem einen oder anderen Geschlecht, dieser Rasse oder jener Religion angehören. Jede bewußte Handlung und in gewisser Weise sogar unser ganzes Leben, das wir uns unter den gegebenen Beschränkungen einrichten, läßt sich als Antwort auf die große Frage auffassen, die uns alle beschäftigt:»Wie werde ich glücklich?«

Was uns bei dieser großen Suche nach dem Glück aufrechterhält, ist die Hoffnung. Selbst wenn wir es uns nicht eingestehen, wissen wir doch, daß es keine Garantie für ein besseres, glücklicheres Leben als unser jetziges gibt. Ein altes tibetisches Sprichwort lautet:»Im nächsten Leben oder morgen«, und wir können nie sicher sein, was zuerst kommt. Aber wir hoffen, daß wir weiterleben. Wir hoffen, daß diese oder jene Handlung uns zum Glück führt. Alles was wir tun, nicht nur als einzelne Person, sondern auch gesellschaftlich gesehen, läßt sich unter dem Aspekt dieses elementaren Strebens betrachten. Und das gilt für alle empfindenden Geschöpfe. Der Wunsch und das Streben danach, ein glückliches Leben zu führen und Leid zu vermeiden, kennt keine Grenzen. Es entspricht unserer Natur. Und darum braucht es keine Rechtfertigung, sondern findet seine Gültigkeit in dem einfachen Umstand, daß wir es aus unserem Wesen heraus zu Recht wollen.

Und genau das sehen wir in armen wie in reichen Ländern.Überall streben die Menschen mit allen nur erdenklichen Mitteln danach, ihr Leben zu verbessern. Doch seltsamerweise habe ich den Eindruck, daß diejenigen, die in den materiell weiterentwickelten Ländern leben, trotz aller technischen Errungenschaften weniger glücklich sind und auf gewisse Weise mehr leiden als jene, die in weniger fortschrittlichen Ländern leben. Wenn man die Reichen mit den Armen vergleicht, scheint es in der Tat oft so zu sein, daß die Besitzlosen weniger vonÄngsten geplagt werden, obwohl sie mehr körperliches Leid erdulden müssen. Die Reichen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wissen dagegen meist nicht, wie sie ihr Vermögen sinnvoll einsetzen sollen: nämlich nicht im Rahmen eines luxuriösen Lebensstils, sondern als Beitrag zum Wohl der Bedürftigen. Das Streben nach weiterem Besitz nimmt sie derart gefangen, daß sie nichts anderem mehr in ihrem Leben einen Platz einräumen können, ja, ihnen entgleitet darüber sogar der Traum vom Glück, den ihre Reichtümer ihnen doch eigentlich erfüllen sollten. Und infolgedessen sind sie ständigen Qualen ausgesetzt: einerseits zerrissen zwischen der Ungewißheitüber das, was kommen mag, und der Hoffnung auf Zugewinn, andererseits von psychischem Streß heimgesucht, auch wenn sie nach außen hin ein erfolgreiches und bequemes Leben zu führen scheinen. Zu diesem Schluß gelangt man jedenfalls, wenn man das beträchtliche Ausmaß und die beunruhigende Verbreitung von Angstgefühlen, Unzufriedenheit, Frustrat