I
Was mir am meisten fehlt, ist der Beifall. Was mir fehlt, sind die eine oder zwei Sekunden Pause nach dem letzten Akkord, der explosive Stillstand, in dem sich alles Gehörte bündelt und bricht, ein schwarzes Loch, ein weißes Loch der Stille, in dem die Stimmen und Figuren, die Töne und Bilder der Oper gebündelt sind und gleichzeitig verschwinden. Aber schon rühren die ungeduldigen Zuhörer die Arme und zerschlagen diesen wunderbaren, viel zu kurzen Augenblick. Dann klatschen mehr als tausend, zweitausend Hände aufeinander, ein neuer Sog entsteht, und der Beifall rauscht los, fällt hoch von den Rängen und nah vom Parkett hinab, in heftigen, in warmen, in stürmischen Wellen, und ich beginne auch diesen Lohn zu genießen.
Nein, einer wie ich in der vorletzten Reihe des Grabens ist nicht so töricht zu glauben, dass auch nur ein Mensch im Saal da oben an ihn denkt. Aller Applaus gilt den Sängerinnen, den Sängern, dem Regisseur, dem Dirigenten, dem Chor, den Meistern der Bühne, Kostüme und Maske und zuletzt dem Orchester und ganz zuletzt den Blechbläsern. Trotzdem hole ich mir jeden Abend meinen Anteil, schließe die Augen und moduliere die Kaskaden des Beifalls nach meinen Phantasien, mal eine angenehme Dusche, mal ein warmer Mairegen, mal das Abklingen eines Orgasmus. (Übertreibe ich, Herr Richter? Kann sein. Sie werden sich daran gewöhnen müssen.)
Über unseren Köpfen die Sängerinnen und Sänger, eben noch ermattet, vergiftet oder erdolcht, verbeugen sich, fassen sich bei den Händen, hüpfen in die Kulissen und springen wieder zurück und lenken alle Aufmerksamkeit auf sich. Im Zentrum aller Blicke die tiefen Dekolletés der Sängerinnen, und die Leute im Parkett und auf den Rängen hauen sich die Hände wund, als dürften sie endlich selbst ihren Auftritt feiern: Applauso fortissimo, tutti. Schlag um Schlag, Vorhang um Vorhang wird die Spannung abgetragen, die wir Takt für Takt aufgebaut haben, auch wir mit den Instrumenten. Ein Teil dieser Ernte gehört mir, und es hat mir nie gereicht, wenn der Dirigent den Wink zum Aufstehen gibt, damit wir mit drei Sekunden Anerkennung abgespeist nach Hause gehen können.
Jeden Abend besiegeln wir mit den Zuhörern und Zuschauern, ob sie Kenner oder Banausen sind oder zu den vielen möglichen Kreuzungen aus Kennern und Banausen zählen, einen Pakt: Wir spielen auf, und sie dürfen mit ihrem Beitrag, dem Klatschen, das luftige Reich der Musik verkleinern, verwischen, vernichten. Unter dem Vorwand der Bewunderung und der Dankbarkeit für gute Leistung schieben sie mit den Kanonaden ihres Beifalls die erschöpften, strahlenden Sänger in die Kulissen und uns Musiker in den Graben zurück. So finden sie allmählich ihr Gleichgewicht wieder und kehren, verzückt, bewegt, vielleicht noch mitgenommen vom Finale, oft zögernd, ob sie nach all den Harmonien der realen Welt schon wieder trauen dürfen, in den Alltag des Gebens und Nehmens zurück, treppab Richtung Garderobe.
Ich lasse das Wasser aus dem Zug und nehme das Mundstück ab. Wenn der Abend gut war, bin ich glücklich, dabei gewesen zu sein, und der Beifall bleibt mir stärker im Ohr als die letzten paar Töne, die ich zu spielen hatte. Endlich habe ich meine Dosis, die mich hebt und trägt.
Ich hatte sie. Das ist das Schlimmste, was mir fehlt. Jetzt weiß ich, was das heißt: Entzug. Lebenslänglich ohne Beifall, das halt ich nicht aus.
Ist ein Mann in’ Brunnen g’fallen, hab ihn hören plumpsen. Wär er nicht hineingefallen, wär er nicht ertrunken. Mit diesem Kinderliedchen beginnt die Karriere des Posaunenspielers, er übt die Positionen 1 6