: Friedrich Christian Delius
: Die Birnen von Ribbeck Werkausgabe in Einzelbänden
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644036017
: Delius: Werkausgabe in Einzelbänden
: 1
: CHF 7.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 80
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein brandenburgisches Dorf zwischen Vergangenheit und Zukunft - Friedrich Christian Delius erzählt in 'Die Birnen von Ribbeck' von der Wendezeit und ihren Nachwehen. Nach dem Mauerfall kommen Westberliner nach Ribbeck, dem durch Fontanes Ballade berühmt gewordenen Dorf in Brandenburg, um den Ribbeckern einen Birnbaum zu schenken und mit ihnen die deutsche Einheit zu feiern. Auf dem Volksfest, wie es seit Jahrzehnten nicht mehr stattfand, verschafft sich ein Ribbecker Bauer Gehör und erzählt zögernd die Geschichte des Dorfes an der alten Heerstraße: Von Feudalherren, Nazis und Soldaten im Zweiten Weltkrieg, den Etappen des Sozialismus bis zum Niedergang der Landwirtschaft, vom letzten Ribbeck, der ins KZ Sachsenhausen kam, von der Roten Armee, den Parteibonzen und den Erben, die jetzt wieder das Dorf mit herrischen Schritten vermessen. Die Birnen von Ribbeck ist ein eindringlicher Regionalroman über die Wendezeit und ihre Folgen. Friedrich Christian Delius gelingt es meisterhaft, anhand der Geschichte eines brandenburgischen Dorfes die Umbrüche und Verwerfungen der deutschen Wiedervereinigung zu schildern und gegen den drohenden Geschichts- und Gedächtnisverlust anzuerzählen.

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

Als sie anrückten von Osten aus dem westlichen Berlin mit drei Omnibussen und rot und weiß und blau lackierten Autos, aus denen Musik hämmerte, lauter als die starken Motoren, und mit den breitachsigen, herrischen Fahrzeugen das Dorf besetzten, wie es seit den russischen Panzern, dem Luftwaffengebell und den Ribbeck’schen Jagdfesten nicht mehr besetzt war, fünfzig oder sechzig glänzende, frisch gewaschene Autos auf den drei Straßen, und ausstiegen wie Millionäre mit Hallo und Fotoapparaten und Sonnenschirmen und zuerst die Kinder, dann uns nach und nach aus Stuben und Gärten lockten und Bier und Fassbrause, Birnenschnaps, Würstchen und Luftballons, Kugelschreiber und Erbsensuppe verschenkten und einen Tanz machten um einen jungen Birnbaum, den sie mitgebracht hatten und nach einer kurzen Rede, die der Bürgermeister wie gewohnt mit schafsäugigem Nicken begleitete, in den Vorgarten des Altenpflegeheims, das früher das Schloss war, einpflanzten und dabei mehr auf die Videokameras als auf den Baum schielten und sich selber Beifall klatschten und uns auf die Schultern hieben, als hätten sie ein großes Spiel gewonnen oder ihre Fahne in erobertes Gebiet gesteckt, und lauter wurden, Bierbecher herumreichten und uns Birnengeist probieren ließen und schnell ihr sagten und du,

 

haben wir auf die Frage gewartet, was wir zu dem neuen Birnbaum zu sagen hätten, denn immerhin war das Dorf einmal berühmt wegen der Birnen, und ob der Platz seitlich vom Altersheim der richtige wäre, denn wenn schon Tradition, wie sie Fontane der Dichter aufgeschrieben hat, dann richtig, ein Birnbaum in seinem Garten stand, wer das Gedicht nicht flüssig hersagen konnte, bekam in der Schule, wo jetzt der Konsum ist, vom Lehrer für jedes Stocken und jedes falsche Wort mit dem Rohrstock eins auf die flache Hand, also auf der Gartenseite oder, längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab, auf den schattigen Wiesen vor der Kirche, wo die Gräber seit langem geschleift sind,

 

aber sie fragten nicht, und ehe wir den Mut fanden zu reden, war der Stützpflock schon eingerammt, das Bäumchen angebunden, die Erde festgetreten, die Männer mit Baum und Spaten hundertmal fotografiert und die Gießkanne dreimal geleert, auch die hatten sie mitgebracht, sogar Zeitungsleute hatten sie mitgebracht, die dauernd fragten: Wie finden Sie das alles?, und wenn wir nicht gleich einen brauchbaren Satz ausstießen, fragten sie: Finden Sie das nicht toll?, sodass wir nur sagen konnten: Ja, und ihnen auswichen, weil sie unseren Zeitungsleuten so ähnlich waren, die niemals ein Nein hören wollten und nur Antworten, die sie schon kannten,

 

ich aber wollte ja sagen, auf andere Weise ja, denn ich konnte die Freude nicht fassen und hatte zu viele unbrauchbare Wörter im Kopf und feierte mit ihnen allen, das Bier und die neue Freiheit, zu feiern mit wem wir wollten und zu jeder Zeit, und die Einheit, die her muss, weil alles keinen Zweck hat, und wir feierten den Birnenschnaps und die kurzen Wege nach Berlin, denn noch Monate vorher war ihnen verboten, anzuhalten und das Dorf zu betreten, war uns verboten zu reden mit den Fremden, die eine fünffach bestempelte Genehmigung hatten und sich dem Pflegeheim, das früher das Schloss war, und der Kirche und den Ruinen der Ribbeck’schen Ställe näherten,

 

und feierten, weil wir im Dorf seit Jahrzehnten kein Schützenfest, keine Kirmes, kein Sängerfest, keine großen Hochzeiten mehr gefeiert hatten, nur die Jägergruppe, die Kleintierzüchter unter sich und belauscht, kein Verein ohne Spitzel, wie soll man da feiern, die Disco alle paar Wochen und Kinderfest einmal im Jahr, und liefen herbei, weil es Würste und Suppe und Bier und Schnaps und Kaffee umsonst gab und weil die düsteren Verbote auf dem Müll gelandet waren und wir nun losgekettet für die Einheit und bestaunt wurden wie Eingeborene und weil alles drunter und drüber ging und ein neuer Baum dastand und weil wir uns gewöhnen mussten und gewöhnen wollten an