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– Wie will er das anstellen, er ist doch weder Funktionär noch Akademiker, Künstler, Sportler oder Seemann, also ohne Chance, mit vielfach genehmigten Papieren durch die Mauer zu fahren. Hat er Verwandte?
– Nein, nahe Verwandte im Westen kann er nicht vorweisen, und bis zum Rentenalter sind es noch fünfundzwanzig Jahre.
Es gibt zwei Wege, den amtlichen und den abenteuerlichen. Der erste, sagt sich Gompitz, führt über Anträge, da musst du drängeln, buckeln, warten, den zweiten musst du allein entdecken, planen, durchführen. Der legale und der illegale Weg, beide musst du vorbereiten, und wenn es Jahre dauert.
Wie kriegt man einen Besuchsantrag bei Verwandten im Westen, wenn man keine hat? Die Cousine in Solingen ist zwar eine Nichte der Stiefmutter, aber, als Cousine angesprochen und wenn sie Briefe bekommt, vielleicht die Brücke eines Tages. Gompitz hat Mühe mit dem ersten Verwandtenbrief nach Westdeutschland, sucht ein paar Sätze zusammen über Vater, Mutter, Onkel und Tante und Weihnachten und Ostern. Er unterschreibt als «Dein Cousin Paul» und hat das Gefühl, als erwachsener Mann zu dienern vor der dreizehnjährigen Göre, die Mitte der fünfziger Jahre mit ihren Eltern Dresden verlassen hat. Wie oft musst du dir das antun, «Dein Cousin Paul»?
Eine andere legale Möglichkeit könnte die Liga für Völkerfreundschaft sein. In der Hoffnung, eines Tages vielleicht in einer Delegation mitreisen zu dürfen, stellt er den Antrag, wegen seines Interesses an römischer Geschichte und deutscher Klassik in der Sektion Italien aufgenommen zu werden.
Kein Tag vergeht, an dem Gompitz nicht an Syrakus denkt. Auf den Fahrten der «Seebad Ahlbeck» zwischen Wolgast und Lauterbach blühen seine Phantasien, schon vergleicht er den Greifswalder Bodden mit der Straße von Messina und nennt Rügen das Sizilien des Nordens.
Es wird September, das Wetter kühl und diesig, die Urlauber wollen nicht am Strand frieren und trinken kräftig Korn und Wodka, der Rubel rollt, das Saisongeschäft belebt sich noch einmal. Nur bei Nebel steigen die Leute nicht gern aufs Schiff, der Urlauber will auf dem Meer das Land sehen und ein bisschen schaukeln, bei Nebel geht beides schlecht. Alle schimpfen, der Kapitän auf die Waschküche, die wenigen Fahrgäste auf die Verspätungen, die Kollegen, weil wenig Trinkgeld einkommt.
Das Schiff hält, von Radar geleitet, den vorgeschriebenen Kurs durch die Grenzgewässer. Gompitz lehnt an der Theke. Kein Land in Sicht, keine Sicht vom Land. Das ist es! Wasser kann man schlecht absperren. In dieser Suppe können die Grenzwächter auf ihren Kreuzern niemanden aufklären, höchstens mit Radar, aber mit einem kleinen Boot müsste man durchwitschen, das ist der Weg! Nichts mit falschen Pässen versuchen, nicht durch die Minenfelder robben, das ist nicht der Weg! Es ist ihm, als höre er den Nebel flüstern, den Nebel schreien: Hier wird dich niemand erkennen, hier ist das Loch, hier geht es raus!
Er weiß nicht, wie er über das Wasser kommen soll, mit welchem Fahrzeug und an welcher Stelle, aber er ist nun sicher, dass er über das Meer nach Syrakus starten muss. Als bald darauf in einem Brief der Liga für Völkerfreundschaft auf die Statuten verwiesen wird, die Liga sei nicht für Privatleute gedacht, sondern für Vertreter der Massenorganisationen, die für die Politik derDDR werben sollen, beschließt Gompitz, den abenteuerlichen Weg zu wählen und zuerst das Segeln zu erlernen, im Winter die Theorie, im nächsten Sommer die Praxis.
Ein Stapel Bücher reicht, und Paul verbringt den Winter zu Hause in Rostock auf dem Wasser und in Italien. Er hat in der Saison genug abkassiert, in den Wintermonaten serviert er nur Helga das Frühstück und Abendessen. Er kauft ein, rückt in den Schlangen vor, bis er Gemüse bekommt, und hält die Wohnung in Ordnung. Sie streiten weniger als früher, das Thema Trennung wird nicht berührt, aber Paul weiß, dass sie öfter daran denkt als er. Seinen Beschluss verrät er nicht, weil er sicher ist, sie würde es vor Angst nicht aushalten neben ihm. Er sagt nur: «Irgendwann möcht ich in meinem Leben nochmal nach Italien, warum haben wir bloß keine Verwandten in Italien!» Damit rechtfertigt er seine Lektüre und fängt ihren milden Spott ab: «Du mit deiner Italiensehnsucht!»
Während sie in der Bücherei Warnemünde arbeitet, studiert er jeden Vormittag drei Stunden lang das Segellehrbuch, lernt Begriffe wie Want und Ducht, Schwert und Pinne, segelt durch die Theorie Hoch am Wind, Vor dem Wind und mit Halbem Wind. Danach liest er zum zweiten Mal Seume, jeden Tag zehn bis zwanzig Seiten. Er spaziert mit ihm von Grimma über Dresden nach Prag und Znaim und Wien und durch die Alpen, im Januar durch die Alpen!