: Wolfgang Kunath
: Das kuriose Brasilien-Buch Was Reiseführer verschweigen
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104027562
: 1
: CHF 10.00
:
: Listenbücher
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wolfgang Kunath ist Lateinamerika-Korrespondent, lebt seit 2002 in Rio de Janeiro - und beantwortet in seinem Buch viele ungewöhnliche Fragen, die uns das größte Land Lateinamerikas näherbringen: - Warum werden die Brasilianer trotz Körperkult immer dicker? - Weshalb leben die Brasilianer ganz gerne hinter Panzerglas und Fenstergittern? - Wieso fürchten sie den Monat August? - Was haben die Brasilianer mit uns zu tun - und wir mit ihnen? Ein spannender Einblick in eines der aufregendsten Länder der kommenden Jahre ...

»Hier müsste man dauerhaft leben«, sagte sich Wolfgang Kunath 1992, als er nach Rio de Janeiro kam, um für die Stuttgarter Zeitung über den damaligen UN-Umweltgipfel zu berichten. Der Wunsch ging nicht gleich in Erfüllung. Von 1994 bis 1999 schrieb er für deutsche und Schweizer Zeitungen aus Afrika, bevor er, nach einem Zwischenspiel in Berlin, als Korrespondent der Stuttgarter Zeitung, der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung nach Rio de Janeiro kam. Das war im Jahr 2002 - als noch kaum zu ahnen war, dass im folgenden Jahrzehnt der spektakuläre Aufstieg Brasiliens zu einer der großen aufstrebenden Wirtschaftsmächte zu beschreiben sein würde.

1.Was die Brasilianer mit uns zu tun haben – und wir mit ihnen


Die brasilianische Küche verdient bis heute keine allzu lauten Lobeshymnen. Aber immerhin, sie verfeinert sich unablässig. Und wenn man João Ubaldo Ribeiro glauben darf – aber man darf ihm natürlich nicht glauben, denn Brasiliens bekanntester lebender Romancier hat eine geradezu tropisch blühende Phantasie –, dann begann die Veredelung im17. Jahrhundert, als Capiroba seine Ernährung radikal umstellte: Und zwar von Portugiesen auf Holländer. »Ein Wildbret wie dieses hatte es nie gegeben«, lässt Ubaldo seinen Menschenfresser Capiroba von dem »hochblonden« Fremdling schwärmen, den er erlegt hatte: »Das Fleisch war ein bisschen blass und süßlich, aber so zart und weich … und die Kinder mochten es so gerne.«

Nach seinem ersten Holländer mag der Caboclo Capiroba – Caboclos sind halb Schwarze, halb Indianer – nicht mehr essen, was er früher aß. Gebratener Pater in Kokosmilch und Dendê-Öl zum Beispiel schmeckt ihm gar nicht mehr, plötzlich empfindet er sogar »Brechreiz, wenn er an Spanier und Portugiesen denkt«, trotz all der Lagerverwalter, Stallburschen, Schiffsjungen oder der »vier jungen Söhne von Gerichtsbeisitzern« portugiesischer Provenienz, die früher seinen Speisezettel bevölkert hatten. Da die Holländer aber, anders als die stets reichlich vorhandenen Portugiesen und Spanier, nicht ständig zur Verfügung stehen, geht Capiroba dazu über, sie nicht sofort zu töten und zu verspeisen. Sondern er beginnt sie lebend zu fangen, einzusperren und nur bei Bedarf zu schlachten. Mit anderen Worten, er erfindet die Stall- und Lagerhaltung.

Auch das früheste historische Zeugnis der deutsch-brasilianischen Beziehungen ist kulinarischer Art. »Darnach furten sie mich in die huetten / … da kamen die weiber … und schlugen vnd raufften mich / vnd draweten (drohten) mir wie sie mich essen woelten«, beschreibt der hessische Landsknecht Hans von Staden seine ungemütliche Begegnung mit den »Wilden / Nacketen / Grimmigen Menschfresser Leuthen«, denen er1550 in die Hände fiel. Da war er bereits das zweite Mal in Brasilien – beim ersten Mal wollte er eigentlich nach Indien, fand aber nur ein Schiff nach Nordost-Brasilien, und das Ziel seiner zweiten Reise war auch nicht Brasilien, sondern das La-Plata-Gebiet weiter im Süden. Aber er erlitt Schiffbruch, rettete sich nahe dem heutigen Hafen Paranaguá ans Festland und kommandierte später, nachdem er in portugiesische Dienste getreten war, die São-Felipe-Festung, damals der südlichste Militärstützpunkt Portugals in Brasilien.

Und als er eines schönen Tages mit seinem Sklaven zum Jagen in den Busch geht, fällt er den Tupinambá-Indianern in die Hände. Er wird niedergeschlagen und gefangen genommen, und sofort entbrennt unter den Wilden ein wütender Streit um die einzelnen Körperteile des damals25-Jährigen, wie er in seinem Reisebericht recht farbig schildert. Aber obwohl die, die ihn gefangen hatten, so wenig Vertrauen erweckende Namen wie »Großer Kochtopf« und »Kleiner Napf« tragen – João Ubaldo Ribeiro hätte sich das auch nicht schöner ausdenken können –, wird er verschont. Er gewinnt nach und nach die Freundschaft eines Medizinmannes, der ihn schützt. Das Los, im Kochtopf oder auf dem Grill zu enden, bleibt ihm erspart, und er wird dann auch nicht mehr gezwungen, sich den Frauen sein