1. Einleitung
Nino und ich haben uns im Kindergarten kennen gelernt. Während den
gemeinsamen Schuljahren waren wir Freunde geworden. Ninos Eltern stammten
aus Italien und sind, wie Tausende andere auch, in den 60-er Jahren der Arbeit
wegen in die Schweiz immigriert.
Als die Frage des Übertritts in die Oberstufe näher rückte, zeichnete sich immer
deutlicher ab, dass Nino die Realstufe besuchen wird, was für die Lehrperson und
auch für die meisten von uns Klassenkameraden klar war, schliesslich gehörte
Nino nicht zu den besten der Klasse. Ich übrigens auch nicht.
Die Eltern von Nino waren der Meinung, dass er die Sekundarstufe schaffen
werde und drängten auf den Übertritt in diese. Es kam zum Konflikt zwischen den
Eltern und der Lehrperson. Zum Übertritt kam es jedoch nicht. Die Eltern von
Nino beschlossen, nach Italien zurückzukehren. Zur Osterzeit verliess die Familie
die Schweiz in Richtung Sizilien.
Heute studiert Nino im 3. Jahr Mathematik und Informatik an der Universität von
Bologna.
Was ist hier schief gelaufen? Nichts, würden wohl einige Leser sagen, schliesslich endet die Geschichte mit einem Happy End. Dennoch habe ich mich öfters gefragt, welche Bildungsbiografie mein Freund durchlaufen hätte, wenn er und seine Familie hier in der Schweiz geblieben wären. Stände er heute in der Schweiz dort, wo er nun in Italien steht? Oder generalisiert betrachtet: Weshalb bringt es jemand im Land A „nur“ zur billigen Arbeitskraft, schafft es aber im Land B zum Mathematiker? Der geschilderte Fall zeigt die mögliche Tragweite eines Übertrittsentscheides auf und verdeutlicht die Problematik, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund ihr Potential in der Volksschule nur ungenügend entfalten können. Diese Chancenungleichheit zeigt sich nicht erst seit PISA, welche die Benachteiligung der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf europäischer Ebene aufdeckte (vgl. Auernheimer 2003; Gogolin 2003). Bereits Lischer (1997) stellte fest, dass ausländische Kinder und Jugendliche in der obligatorischen Schule zunehmend einer härteren Selektion unterzogen und immer häufiger sonderpädagogisch betreut werden. Diese Tatsache widerspricht voll und ganz dem von der EDK 1991 erlassenen Grundsatz, „alle in der Schweiz lebenden fremdsprachigen Kinder in die öffentlichen Schulen zu integrieren. Jede Diskriminierung ist zu vermeiden. Die Integration respektiert das Recht des Kindes, Sprache und Kultur des Herkunftslandes
zu pflegen.“ (EDK 1991, zit. in Truniger, 1996, S. 127). Auch Truniger (1996, S. 133) stellte bei der Betrachtung des schweizerischen Bildungswesens fest, dass dieses sich zwar „bemüht, die Folgen der Immigration zu bewältigen“, sich bislang aber kein „wirklich multikulturelles Bildungskonzept bildungspolitisch durchgesetzt“ hat. Fakt ist und bleibt also auch weiterhin die Tatsache des stark gestiegenen Anteils von „Ausländerkindern“ in den Sonderschulen und deren Untervertretung in den anspruchsvollen Schulstufen.
Zur Verbesserung dieser Situation und der Klärung der Frage, welche Faktoren denn eigentlich zum Schulerfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund beitragen, intensivierte die interkulturelle Pädagogik ihre Forschungstätigkeit. Der Fokus der Forschung wandelte sich dabei fortlaufend. In den 1980-er Jahren wurde vorwiegend der heute widerlegte Erklärungsansatz der „staatlichen Herkunft“ (Hopf 1987) untersucht. Durch die Feststellung, dass je nach dem, aus welchem Staat die Immigrantinnen und Immigranten emigriert waren, diese bessere oder schlechtere Schulleistungen erbrachten, gingen die Forscher davon aus, dass dies mit der staatlichen Herkunft zusammenhängen muss. Ende der 90-er Jahre schwenkte die Betrachtungsweise auf systemische Erklärungsansätze über. Untersucht wurden dabei frühe Selektionsmassnahmen und strukturelle Merkmale des Bildungssystems. Hierbei stellte sich heraus, dass schulischer Erfolg vielfach durch „institutionelle Diskriminierung“ (vgl. Moser/Rhyn 2000, Kronig 2000, Gomolla/Radtke 2002) verwehrt bleibt.
Andere Forscherinnen und Forscher hatten ihre Aufmerksamkeit auf die Betrachtung von gesellschaftlichen Aspekten wie der „sozialen Herkunft“ gelenkt (vgl. Hutmacher 1995, Houbé 1996, Müller 1997, Moser/Rhyn 2000, Donati/Mossi 2001) oder aber untersuchten den Bereich der Schulgestaltung. Dort eruierten sie Faktoren wie die „Haltung der Lehrperson“ (vgl. Jungbluth 1994, Weinert/Helmke 1996, Oelkers/Oser 2000, Kron