: Katrin Unterreiner, Sabine Fellner
: Puppenhaus und Zinnsoldat Kindheit in der Kaiserzeit
: Amalthea Signum Verlag GmbH
: 9783902862365
: 1
: CHF 13.20
:
: Geschichte
: German
: 216
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wie es damals war, ein Kind zu sein Adrett gekleidete, wohlerzogene rotwangige Kinder an der Hand ihrer Eltern beim Sonntagsspaziergang prägen das Kinderbild des 19. Jahrhunderts. Ein Blick hinter die Kulissen offenbart einen kindlichen Alltag, der von Zucht, Gehorsam und Unterordnung unter die väterliche Autorität geprägt war und in unteren sozialen Schichten sogar harte Arbeit bedeutete. Doch selbst das Kindsein bei Hof war kein Leben im 'Schlaraffenland', sondern vielmehr ein von Geburt an exakt vorgegebener Lebensweg. Ab den frühesten Kindertagen begann die Vorbereitung auf ein diszipliniertes Erwachsenenleben voller Verpflichtungen. Die Autorinnen beleuchten den harten Alltag von Arbeiterkindern wie der später führenden Sozialdemokratin Adelheid Popp, zeigen die düstere Atmosphäre der bürgerlichen Kindheit von Marie von Ebner-Eschenbach bis Stefan Zweig und geben berührende Einblicke in die spartanischen kaiserlichen Kindskammern von Maria Theresia bis Kronprinz Rudolf.

Sabine Fellner, Studium der Kunstgeschichte und Geschichte an der Universität Wien und an der Sorbonne in Paris. Mitarbeit bei zahlreichen Ausstellungen. 1999-2000 Neukonzeption des österreichischen Tabakmuseums und bis 2003 Kuratorin des Museums. Seit 2003 Kuratorin der Kunstsammlung Austria Tabak und als freie Autorin und Kuratorin tätig. Zahlreiche Publikationen zum Thema Alltagskultur und zur österreichischen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Publikationen bei Amalthea: 'Morphium, Cannabis und Cocain' und 'Frühere Verhältnisse'. Katrin Unterreiner, Studium der Kunstgeschichte sowie Geschichte an der Universität Wien. 2000 bis 2007 wissenschaftliche Leiterin der Kaiserappartements der Wiener Hofburg und Kuratorin des 2004 eröffneten Sisi Museums. Kuratorin zahlreicher Ausstellungen sowie Publikationen zur Wiener Hofburg sowie Alltagskultur des Wiener Hofes. Autorin der 2005 und 2006 erschienenen Biographien 'Sisi - Mythos und Wahrheit' und 'Kaiser Franz Joseph - Mythos und Wahrheit'. Letzte Publikationen bei Amalthea: 'Morphium, Cannabis und Cocain' und 'Frühere Verhältnisse'.

»Das harmonische Ebenmaß aller körperlichen und geistigen Kräfte«


Pädagogik zur Jahrhundertwende


Die Kindererziehung des 18. Jahrhunderts war ganz im Banne einer repressiven Pädagogik gestanden, die den absoluten Gehorsam des Kindes an oberste Stelle setzte. Bei der Anwendung der Mittel war man nicht zimperlich gewesen: Lügen, Verschleierung, Manipulation, Liebesentzug, Isolierung, Demütigung, Verachtung, Spott, Beschämung und Gewaltanwendung waren legitimiert, um die, wie man meinte,»böse Kindsnatur« zu dressieren.

Um dieses Ziel zu erreichen, musste in erster Linie der dem Kind eigene Wille so früh wie möglich gebrochen werden.

Diese ersten Jahre haben unter anderem auch den Vorteil, dass man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen nehmen, so erinnern sie sich hiernach niemals mehr, dass sie einen Willen gehabt haben.3

So liest man in einem»Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder« 1748.

Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann nun der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi auf der Basis von Jean Jacques Rousseau eine neue, humanere Form der Pädagogik zu entwickeln. Als Vorläufer der Anschauungspädagogik versuchte er, dem Kind eine aktivere Rolle, mehr Handlungsspielraum einzuräumen.

Die Eltern sollten innerhalb der Familie vor allem durch ihr Vorbild erzieherisch wirken. Wichtig erschienen ihm die geistigen, sittlichen und handwerklichen Fähigkeiten des Kindes gleichermaßen so früh wie möglich zu fördern. Dahinter stand sein idealistisches Ziel einer ganzheitlichen Volksbildung, die Menschen hervorbringen sollte, die im Stande waren, selbstständig und kooperativ in einem demokratischen Gemeinwesen zu wirken.

Friedrich Dittes, ein deutscher Pädagoge und Reformer desösterreichischen Schulwesens, schloss in seinen reformatorischen Bestrebungen an Pestalozzi an. Er formulierte seine Ziele 1880 voll des Idealismus:

Die echte Erziehung ist allgemeine Menschenbildung; sie richtet sich auf das Ganze, auf das harmonische Ebenmaß aller körperlichen und geistigen Kräfte, auf die organische Einheit eines gesunden Leibes und einer gesunden Seele.4

In seiner umfassenden»Schule der Pädagogik« setzte er zwar den absoluten Gehorsam weiterhin an den Beginn der Kindererziehung:»Das Kind muß zuerst seinem Erzieher gehorchen, um allmälig dem Sittengesetze, das ihm zum Gewissen werden soll, gehorchen zu lernen.« Aber er versuchte auch zunehmend, die Persönlichkeit des Kindes zu achten und appellierte an die moralische Verantwortung und die Vorbildfunktion des Erziehers, der nicht länger subjektive Willkür walten lassen dürfe.5

Der neue Anspruch an den Erzieher war also sehr hoch: Das auf den vier Säulen– körperliche Gesundheit, Intellekt, Moral und Religion– aufgebaute Erziehungsgebäude galt es mit den individuellen Fähigkeiten des Kindes und seiner Entwicklung im Gleichgewicht zu halten:

der rechte Pädagog verschafft und erhält sich jederzeit eine möglichst vollständige Kenntniß seines Zöglings, faßt alle erzieherischen Erscheinungen und alle Fäden seines Geschäftes zusammen, betrachtet immer das Gegenwärtige und seiner Bedingtheit durch das Vergangene und seiner Wirkung auf das Zukünftige.6

Der Willen des Kindes sollte nun nicht mehr roh gebrochen werden. Tatsächlich wurde dem unverständigen Kind aber zum Schutz vor Schaden weiterhin unbedingter Gehorsam abverlangt:

In jedem Falle seien die Gebote und Verbote, sowie deren Begründung möglichst kurz und bestimmt, damit das Kind zwar genau erfahre, was es zu thun und zu lassen habe, nicht aber durchüberflüssiges Reden gelangweilt, oder zum Mißtrauen gegen den Erzieher, zum Widersprechen und Disputiren gereizt werde. Das unreife Kind darf sich seinem Erzieher in keiner Weise gleichstellen, oder demselben wohl gar Rechenschaft abfordern; hierdurch würde ja das ganze pädagogische Verhältniß gestört werden. Nur stehe der Erzieher auch wirklich höher als sein Zögling, nicht blos physisch und geistig, sondern vor Allem auch moralisch.7

Dittes mildert hier das Prinzip