Kindheit in Frankfurt am Main
1749 – 1765
Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabulieren.
Urahnherr war der Schönsten hold,
Das spukt so hin und wieder,
Urahnfrau liebte Schmuck und Gold,
Das zuckt wohl durch die Glieder.
Sind nun die Elemente nicht
Aus dem Komplex zu trennen,
Was ist denn an dem ganzen Wicht
Original zu nennen?
»Zahme Xenien«
»Rätin«, ruft Kornelia Göthe zu ihrer 19-jährigen Schwiegertochter hinüber, die gerade von ihrem ersten Kind entbunden worden war, »Rätin, er lebt!« Nach schwerer Geburt ist der Junge Donnerstag, den 28. August 1749, bald nach Mittag auf die Welt gekommen, mit einer Kreislaufstörung und ganz blau vor Atemnot. Ärzte werden damals bei Geburten noch nicht hinzugezogen, und die Hebamme erweist sich als keine große Hilfe. Die beherzte Großmutter nimmt die Sache darum selber in die Hand, wäscht das Kind in warmem Wasser, reibt ihm die Herzgrube mit Wein ein. Endlich schlägt es seine großen Augen auf. Es ist geschafft.
Im 18. Jahrhundert wächst die Bevölkerung in Deutschland so gut wie gar nicht. Allzu hoch ist die Sterblichkeit. Der Tod kommt häufig und früh. Am gefährlichsten ist – gleichermaßen für Mutter und Kind – schon die Geburt. Deshalb wird der Sohn des Kaiserlichen Rates Johann Caspar Goethe und seiner Frau Catharina Elisabeth, geborene Textor, auch gleich am nächsten Tag getauft. Pastor Fresenius kommt in das Haus am Großen Hirschgraben Nr. 23 und gibt ihm die Namen seines Paten, des Großvaters Johann Wolfgang Textor. Es ist derselbe Geistliche, der schon die Mutter konfirmiert und die Eltern getraut hat und der dann 14 Jahre später auch den jungen Goethe konfirmieren wird.
»Ich habs im Mutterleib schon gespürt, was aus meinem Kind wird werden«, schreibt Frau Goethe später, »und hab auch keinen Augenblick dran gezweifelt, seit er auf der Welt war, daß es zu ihrem Heil werde sein.« Das Kirchenbuch protokolliert die Ankunft des neuen Erdenbürgers ungleich nüchterner, wenngleich im umständlichen Aktendeutsch jener Jahre. Da ist der Vater »Ihro röm. Kayserl. Majest. würckl. Rath und beider Rechten Doct.« und der Herr Gevatter der »Hochansehnliche Schultheiß allhier wie auch Ihro Röm. Kayserl. Majest. würcklicher Rath«. Ein Söhnchen, nicht von schlechten Eltern!
Tatsächlich sind Goethes Vorfahren in den letzten Jahrzehnten die soziale Leiter immer höher hinaufgeklettert. Urgroßvater Göthe war Hufschmiedemeister und Ratsdeputierter. Sein ältester Sohn wurde Schneider und kam bis nach Paris und Lyon, wo er sich die Kenntnis der feinen französischen Mode erwarb. In Frankfurt heiratete er dann in erster Ehe eine Meisterstochter und nach deren Tod eine Witwe, die Besitzerin eines Gasthofs war. Offenbar auch als Wirt und Weinhändler erfolgreich, hinterläßt er, der sich dreisprachig Fridericus Georg Göthé schreibt, ein Kapital von 90 000 Gulden, von dem Goethes Vater und schließlich auch noch Goethe selber zehren werden.
Die Textors waren schon generationenlang eine angesehene Juristenfamilie gewesen, der Urgroßvater Kurpfälzischer Hofgerichtsrat in der Freien Reichsstadt Frankfurt, sein ältester Sohn – Goethes Großvater mütterlicherseits – als Reichs-, Stadt- und Gerichtsschultheiß der erste Mann am Ort.
Goethes Vater legt eigentlich über das solide Fundament von Geld und Ansehen nur noch ein wenig Glanz, indem er es zum Doktor beider Rechte bringt und sich von Kaiser KarlVII. – einflußreiche Freunde sind bei der Vermittlung behilflich – für 313 Gulden, 30 Kreuzer den Titel eines Kaiserlichen Rates erwirbt. Damit hat er es zu höchst respektablem Ansehen gebracht, ohne auch nur ein einziges Mal in seinem Leben durch eigene Arbeit das Vermögen der Vorfahren vermehrt zu haben. Kaiserliche Räte gibt es nur noch neun weitere in der Stadt.
Die genannten Berufs- und Standesbezeichnungen öffentlichen Dienstes klingen heute fremd. Aber Goethe wird in einen fast noch mittelalterlich geprägten Stadtstaat hineingeboren – wohingegen sich die Welt, als er alt ist, völlig verändert hatte. Das läßt sich schon an einigen Interessen seiner letzten Lebensjahre ablesen: Er interessiert sich für den Bau von Suez- und Panamakanal, für Dampfmaschinen und die ersten Eisenbahnen.
Frankfurt am Main ist ein Ländchen für sich und als Freie Reichsstadt nur dem Kaiser in Wien untertan. Mauern umschließen sie. Abends werden die Tore zugesperrt und die Schlüssel beim Bürgermeister hinterlegt. Winklige Gassen bestimmen das Stadtbild. Die Zünfte sind str