1. Es gibt keine Fehler
„Es gibt keine Fehler, es gibt nur Erfahrungen.“
Als ich Anfang dreißig war, befand ich mich in einer für mich sehr entscheidenden, existenziellen Lebenskrise. Es war für mich ein Tiefpunkt erreicht, an dem mir eine notwendige und grundlegende Zäsur in meinem Leben unumgänglich erschien. Eines Nachts träumte ich von einem großen Schild, so einer Art Werbetafel. Auf diesem Schild stand:„Es gibt keine Fehler, es gibt nur Erfahrungen.“ Ich erwachte und spürte mit großer Gewissheit, dass diese Traumweisung den Nagel auf den Kopf traf und mir ungeahnte Schritte in ein neues Leben ermöglichte.
Da ichüber viele Jahre Lebensmaximen gefolgt war, die sich vielleicht am ehesten mit dem Mythos von„Sex, Drugs& Rock 'n' Roll“ umschreiben lassen, hatte ich große Angst, das Gewohnte zu verlassen. Diese Haltung behinderte meinen Neuanfang. Ich verharrte, wohl wissend, dass mich das Nicht-Handeln in den Abgrund führen würde. Mein Zögern war in dieser Zeit mein größtes Hindernis. Das galt es zu beseitigen. Ich hatteüberhaupt das Gefühl, in meinem Leben an einem Punkt angelangt zu sein, der nach einer dringenden und grundlegenden Korrektur geradezu schrie. Zugleich hielt mich die Angst, mit dem Neuanfang wieder etwas falsch zu machen, gefangen. Doch, was sagte mir dieser Satz„Es gibt keine Fehler, es gibt nur Erfahrungen“ in dieser Situation? Wenn es keine Fehler gibt, dann gibt es auch nichts, was ich falsch machen kann! Was bei meinem Neuanfang herauskommen würde, konnte und brauchte ich nicht zu wissen. Fest stand nur, dass eine Erfahrung dabei herauskommen würde. Nicht mehr und nicht weniger. Eine Lektion. Eine Lernmöglichkeit. Eine Gelegenheit, zu wachsen, zu reifen und zu heilen. Diese Zusage erlebte ich als unendlich befreiend und verheißungsvoll. Dieser Satz gab mir den benötigten Tritt in den Allerwertesten und ermutigte mich, erste Schritte in meinem neuen Leben zu gehen.
Den meisten Menschen ist es nur sehr schwer möglich, ein Geschehen wertungsfrei wahrzunehmen. Zu tief sitzt die Gewohnheit, die Welt und unsere Erlebnisse in Kategorien von Gut und Schlecht, Falsch und Richtig einzuordnen. Dabei orientieren wir uns an erlernten Bewertungsmustern. Wir sind so verfangen in dem Kreislauf von Schuldzuweisungen und Projektionen, dass es uns unendlich fremd ist, einen urteilsfreien Blickwinkel für eine Erfahrung zu bekommen. Wir sagen:„Das ist gut“ oder„Das ist schlecht“. Wie wäre es stattdessen einfach:„Das ist jetzt so“, zu sagen.
Das Haupthindernis, sich der Tiefgründigkeit dieser Aussage zu nähern, ist unsere Konditionierung auf die moralische Bewertung einer Tat oder eines Ereignisses. Anzunehmen, dass alles, was geschieht, kein Fehler ist, ist für uns eine schwer zu akzeptierende Realität. Schwierig ist es vor allem dann, wenn wir etwas ablehnen, verurteilen oder„schlimm“ finden. Dabei kann sich die Fähigkeit, diesen„Fehler“ als reine und moralfreie Erfahrung umzuinterpretieren, als eine segensreiche Erweiterung unseres Bewusstseins erweisen und die Sichtweise auf unser Erlebenöffnen, damit es frei wird für Wandlung und Transformation. Joseph Beuys schlug vor, dass wir fünfzig Jahre vorausdenken sollten und von dort unseren Blick auf das Erlebte richten– das würde die momentane Bewertung in der Regel sehr verändern. Es braucht anscheinend einen sehr weiten Blick und einen offenen Bewusstseinsraum, damit Erfahrungen in einem neuen Licht gesehen werden können.
Die moralische, verurteilende und bewertende Schuldzuweisung möchte uns im Alten festkleben. Sie weckt den Wunsch, etwas Geschehenes rückgängig zu machen– was nie gelingen kann. Die freudvolle Erinnerung möchte alles gute Erleben festhalten und wiederholen. Beide Gefühle widersprechen der Wahrheit des Jetzt. Es sind nur die ewig gleichen und oft sehr komplex und subtil versteckten Bemühungen unseres lieb gewonnenen Egotanzes, uns aus der Gegenwart zu zerren. Wenn wir uns im gegenwärtigen Augenblick sammeln und außerhalb von Vergangenheit und Zukunft bewegen, kann uns Wundersames, Merkwürdiges und Gleich-Gültiges passieren. Dem Fluss der Zeit und dem