Zweites KapitelFräulein Sharp und Fräulein Sedley schicken sich zur Eröffnung des Feldzuges an
Als Fräulein Sharp die im vorigen Kapitel erwähnte heroische Tat getan und das Wörterbuch über das Pflaster des kleinen Gartens hinweg vor des erstaunten Fräulein Jemimas Füße hatte fallen sehen, nahm das Gesicht der jungen Dame, das vor Haß fast totenbleich ausgesehen hatte, ein Lächeln an, das aber kaum angenehmer war, und sie sank erleichterten Gemüts auf ihren Sitz zurück, indem sie sagte: »Das Wörterbuch ist erledigt; Gott sei Dank, daß ich aus Chiswick heraus bin.«
Fräulein Sedley war über diese rebellische Handlung fast ebenso erschrocken, wie es Fräulein Jemima gewesen war; man bedenke, sie hatte eben in dieser Minute die Schule verlassen, und die Eindrücke von sechs Jahren verlieren sich doch nicht gleich. Nein, bei manchen Leuten dauern solche Ängste und Schrecken aus der Jugendzeit sogar für immer und ewig. Ich kenne zum Beispiel einen ältern Herrn von achtundsechzig Jahren, der eines Morgens beim Frühstück mit sehr erregtem Gesicht zu mir sagte: »Ich träumte heute Nacht, daß Dr. Raine mir die Rute gab.« Die Phantasie hatte ihn in jener Nacht fünfundfünfzig Jahre zurückgetragen. Dr. Raine und seine Rute schienen ihm mit achtundsechzig noch so schrecklich wie einst mit dreizehn. Wenn ihm der Doktor selbst leibhaftig im achtundsechzigsten Jahre mit einer großen Rute erschienen wäre und mit schrecklicher Stimme gerufen hätte: »Junge, zieh die Hosen runter!?« – Nun, wir wollen das nicht ausmalen – genug, Fräulein Sedley war über diese respektlose Tat furchtbar erschrocken.
»Wie konnten Sie das nur tun, Rebekka?« sagte sie endlich nach einer Pause.
»Wie, denken Sie denn etwa, daß Fräulein Pinkerton herauskommen und mich wieder in das schwarze Loch zurückholen wird?« sagte Rebekka lachend.
»Nein, aber –«
»Ich hasse das ganze Haus,« fuhr Fräulein Sharp wütend fort, »ich hoffe, es nie wieder vor Augen zu sehen. Ich wünschte, es läge auf dem Grund der Themse, wahrhaftig! Und wenn Fräulein Pinkerton darin wäre, so würde ich sie ganz gewiß nicht herausholen. Oh, wie gern sähe ich sie auf dem Wasser schwimmen, mitsamt ihrem Turban, ihrer langen Schleppe und ihrer Nase, die wie der Schnabel eines Kahns aussieht.«
»Scht!« machte Fräulein Sedley.
»Ach was – wird etwa der schwarze Diener klatschen?« sagte Rebekka lachend. »Er kann gern zurückgehen und Fräulein Pinkerton erzählen, daß ich sie von ganzer Seele hasse, und ich möchte sogar, daß er es täte, ja, ich wünschte, ich könnte es ihr auch beweisen. Zwei Jahre lang habe ich nur Beleidigungen und Beschimpfungen von ihr erduldet. Ich bin schlechter behandelt worden als die geringste Küchenmagd. Ich habe außer von Ihnen nie ein freundliches oder gütiges Wort bekommen. Ich mußte die kleinen Kinder in den untersten Klassen warten und mit den jungen Damen Französisch sprechen, bis mir meine eigne Muttersprache zum Ekel wurde. Aber daß ich zu Fräulein Pinkerton Französisch sprach, das war doch ein Hauptspaß, nicht wahr? Sie versteht kein Wort Französisch, war aber immer zu stolz, es einzugestehen. Ich glaube, deshalb schickte sie mich auch fort, und darum sei dem Himmel Dank für das Französische. Es lebe Frankreich! Es lebe der Kaiser! Es lebe Bonaparte!«
»O Rebekka, Rebekka, schämen Sie sich!« rief Fräulein Sedley; denn von allem, was Rebekka bis jetzt gesagt hatte, war dies die größte Blasphemie; in jenen Tagen bedeutete in England: »Lang lebe Bonaparte!« soviel wie: »Lang lebe Luzifer!« »Wie können Sie, wie wagen Sie es nur, solche gottlosen, rachevollen Gedanken zu haben?«
»Rache mag gottlos sein, sie ist aber natürlich,« entgegnete Rebekka