: Marie Luise Knott
: Verlernen Denkwege bei Hannah Arendt
: Matthes& Seitz Berlin Verlag
: 9783882219241
: 1
: CHF 13.50
:
: Kunst, Literatur
: German
: 152
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Ich rühre nie wieder eine intellektuelle Geschichte an!' 1933, den Bankrott des Denkens und der Urteilskraft vor Augen, verließ Hannah Arendt, die Schülerin von Martin Heidegger und Karl Jaspers, ihre Heimat, die Philosophie und Deutschland. Um in den Besitz einer eigenen Sprache für das Gesehene und Gehörte, Geschehene und Getane zu gelangen, begann sie im Exil ihre Wege des 'Verlernens', die sie später ihre lebenslange Verstehensarbeit nannte. Marie Luise Knott skizziert Erkenntniswege, mit deren Hilfe sich Hannah Arendt, die Theoretikerin der Freiheit, kollektive 'Lebenslügen' und vorgefasste Meinungen austreibt, die am Denken hindern. Die Kraft der Bilder und der Begriffe machen den Denkraum Hannah Arendts zu einem verlässlichen Ort, in dem der Leser seine eigene denkerische Ratlosigkeit aufgehoben weiß und sich selbst in 'wesentliche gedankliche Prozesse' verwickeln kann. - Verlernen ist mehr als ein Buch über das Nachleben dieser Ausnahmedenkerin. Arendts Wege des Verlernens erweisen sich als Anstöße zu politischem Handeln und Urteilen. Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie 'Sachbuch/Essayistik' Begründung der Jury: 'Marie Luise Knott erschließt das Denken Hannah Arendts einfühlsam, unaufgeregt und eindringlich. So erscheinen Lachen, Übersetzen, Verzeihen und Dramatisieren als Techniken, um Freiheit zu gewinnen.'

Marie Luise Knott lebt als freie Autorin, Kritikerin und Übersetzerin in Berlin. Zuletzt erschien: 370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison, das mit dem Tractatus-Preis für philosophische Essayistik ausgezeichnet wurde. Knott ist Mitherausgeberin von John Cage. Empty Mind zusammen mit Walter Zimmermann, Berlin 2012. Übersetzerin von Anne Carson, Anthropologie des Wassers und dies., Albertine. 59 Liebesübungen. Kürzlich erschien Dazwischenzeiten. 1930 - künstlerische Wege in der Erschöpfung der Moderne. In dem Internet-Kulturmagazin »www.perlentaucher.de« hat sie eine Kolumne für zeitgenössische Lyrik unter dem Titel: Tagtigall.

Übersetzen


Der »einzigartige Umweg«


Dies ist nun alles und ist nicht genug

Doch sagt es euch vielleicht, ich bin noch da

Dem gleich ich, der den Backstein mit sich trug,

Der Welt zu zeigen, wie sein Haus aussah.

Bertolt Brecht

1935, in einem Text zu Ehren von Martin Buber, zog Hannah Arendt in Paris eine interessante Parallele: Vor 150 Jahren, zu Beginn der Emanzipation, habe Moses Mendelssohns neue Bibelübersetzung die jüdische Jugend aus dem Ghetto herausgeführt; in den 1920er Jahren hätten Martin Buber und Franz Rosenzweig mit ihrer neuen Bibelübersetzung die (assimilierten) Juden wieder zu ihrer jüdischen Vergangenheit zurückgeführt. Beides habe sich dem »einzigartigen Umweg der Übersetzung« verdankt. Moses Mendelssohn, der 1743 mit nichts als Hebräisch und Westjiddisch im Gepäck als Vierzehnjähriger durch das den Juden und dem Vieh vorbehaltene Stadttor nach Berlin gekommen war, hatte sich entschieden, eine neue deutschsprachige Übersetzung derFünf Bücher Moses zu erstellen, diese Übersetzung jedoch nicht in lateinischer, sondern in hebräischer Schrift vorzulegen. Durch diese Neuübersetzung sei es Mendelsohn laut Arendt gelungen, die Juden seiner Zeit, die ja mehrheitlich jiddisch sprachen und nur hebräische Schriftzeichen lasen, in die deutsche und europäische Kultur der Aufklärung hineinzuführen. Der Bibelübersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig aus den zwanziger Jahren käme heute ein paralleles Verdienst zu: Buber und Rosenzweig hätten die heiligen Texte aus den christianisierten wie aus den modernen philosophischen Interpretationen herausgelöst und eine deutsche Übersetzung vorgelegt, in der die hebräische Herkunft des Textes wieder kenntlich geworden sei. Über den »einzigartigen Umweg« der Übersetzung, so Arendt, hätten Buber/ Rosenzweig die assimilierten Juden auf den Weg zur jüdischen Kultur zurückgeführt.1 Arendt, die 1933 aus Berlin nach Frankreich geflohen war, verfasste ihre Lobrede auf Martin Buber mitsamt der Erwähnung Moses Mendelssohns in französischer Sprache im Pariser Exil. Dahinter steht die Überlegung, dass in Umbruchszeiten Übersetzungen die Fähigkeit haben, in geistige und kulturelle Sackgassen hineinzuwirken, Ghettomauern niederzureißen, Kulturen neue Wege zu öffnen. Moses Mendelssohn wie Buber/ Rosenzweig hatten mehr geleistet als einen einfachen sprachlichen Transport; durch ihre Übersetzung hatten sie einen fremden Geist – aus einer anderen Zeit oder aus einem anderen Kulturraum – an einem neuen Ort angesiedelt. Wenn das Hier und Jetzt, in das hinein ein Kulturtransport erfolgt, offen und gesprächsbereit ist, hat ein solcher Transfer die Kraft, der Aufnahmekultur neue Impulse zu geben, Denkbilder und Denkräume zu eröffnen. Eine derartige Öffnung hatte auch der katholisch aufgewachsene Lambert Schneider im Sinn gehabt, als er 1925 für das erste Programm seines neu gegründeten Verlages Martin Buber zu einer Neuübersetzung der »Schrift« anregte.2

Hannah Arendt wuchs in einem deutsch-jüdischen Bildungsmilieu auf. Sie lernte Latein und Französisch, später auch Griechisch, im Exil kam Englisch hinzu. Hebräisch konnte sie nie wirklich.

Noch 1927 bezeichnete sie sich als »hoffnungslos assimiliert«, doch angesichts des bedrohlich wachsende Antisemitismus in Deutschland wandelte sie sich zur Assimilationskritikerin. Ihr Ausruf aus dem Jahr 1933: »Nie wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an!«3, artikulierte den Schock. Sie hatte erfahren, dass die einfachen Menschen mehr Zivilcourage und gesunden Menschenverstand besaßen als ihre intellektuellen Freunde, die sich gleichschalteten. Der Mensch – so beschrieb sie später die von ihrer ganzen Generation erfahrene Endgültigkeit des Traditionsbruchs und ihre damalige geistige Not – habe die Fähigkeit »zu Denken und zu Erfahrung« verloren. Die Welt konnte mit den bestehenden und überlieferten Vorstellungen von Welt und Mensch nicht mehr begriffen werden.4 Konnte es sein, dass »der ganze europäische Humanismus« irrelevant war?

Sie, die Emigrantin, war fortan Botin eines doppelten Unglücks: einerseits des Bankrotts von Emanzipation und Assimilation, andererseits der Kapitulation des Denkens und des Denkve