: Jon Fosse
: Morgen und Abend Nobelpreis für Literatur 2023
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644030114
: 1
: CHF 11.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 128
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In «Morgen und Abend» erzählt Jon Fosse von einem großen Thema, dem Tod. Die Geschichte, in deren Mittelpunkt ein einfacher norwegischer Fischer steht, dessen Leben hart und erfüllt war, öffnet den Blick auf das, wovon heute kaum noch jemand spricht. Eine kunstvoll rhythmisierte, ganz schlichte Erzählung, die bezaubert und berührt. «Vermutlich hat es in den letzten Jahren kein traurigeres, aber zugleich auch kein fröhlicheres, tröstenderes Buch gegeben über den Morgen des Lebens und den Abend des Todes.» (Elke Heidenreich)

Jon Fosse, 1959 in der norwegischen Küstenstadt Haugesund geboren und am Hardangerfjord aufgewachsen, gilt als einer der bedeutendsten europäischen Schriftsteller unserer Zeit. 2023 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.  Internationale Bekanntheit erlangte Fosse zunächst als Dramatiker. Seine mehr als dreißig Theaterstücke werden weltweit aufgeführt und brachten ihm zahlreiche Preise ein. In deutscher Übersetzung erschienen zunächst die Romane 'Melancholie', 'Morgen und Abend' und 'Das ist Alise'. Für sein Prosawerk 'Trilogie' bekam er 2015 den Literaturpreis des Nordischen Rates verliehen, den renommiertesten Literaturpreis Skandinaviens. Mit 'Der andere Name', dem ersten Band seines Romanprojekts 'Heptalogie', war er 2020 für den  International Booker Prize nominiert, mit dem letzten Band 'Ein neuer Name' stand er 2022 auf der Shortlist und wurde mit den wichtigsten norwegischen Literaturpreisen Brageprisen und Kritikerprisen ausgezeichnet. Seit 2011 genießt er lebenslanges Wohnrecht in der 'Grotte', einer Ehrenwohnung des norwegischen Königs am Osloer Schlosspark, und lebt mitunter auch in Hainburg an der Donau/Österreich oder in Frekhaug/Norwegen. Seit 2022 ist er Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.

I


Noch mehr heißes Wasser Olai, sagt die alte Hebamme Anna

Steh nicht in der Küchentür rum Mensch, sagt sie

Nein nein, sagt Olai

und er spürt, wie eine Wärme und eine Kälte sich überall auf seiner Haut ausbreiten, und er bekommt Gänsehaut und ein Glücksgefühl durchfährt ihn und steigt ihm als Tränen in die Augen und er geht schnell zum Herd und schöpft dampfend heißes Wasser in eine Schüssel, ja heißes Wasser sollst du haben, denkt Olai und er schöpft noch mehr heißes Wasser in die Schüssel und er hört die Hebamme Anna sagen jetzt ist es sicher genug, ja jetzt reicht es, sagt sie und Olai schaut auf und da steht die alte Anna neben ihm und nimmt die Schüssel

Ich trag sie selber rein ja, sagt die Hebamme Anna

und dann ist aus der Kammer ein unterdrückter Schrei zu hören und Olai sieht der alten Anna in die Augen und er nickt ihr zu und grinst er sie nicht auch ein bisschen an

Ein bisschen Geduld noch, sagt die alte Anna

Wenn es ein Junge wird, soll er Johannes heißen, sagt Olai

Abwarten, sagt die Hebamme Anna

Ja Johannes, sagt Olai

Wie mein Vater, sagt er

Ja ein guter Name, nichts gegen zu sagen, sagt die alte Anna

und noch ein Schrei ist zu hören, lauter jetzt

Geduld noch Olai, sagt die alte Anna

Hab noch ein bisschen Geduld, sagt sie

Hörst du, was ich sage?, sagt sie

Du bist Fischer, du weißt, Frauen gehören nicht ins Boot, nicht wahr?, sagt sie

Jau, sagt Olai

Und hier gilt dasselbe für Männer, du weißt, was sonst passiert?, sagt die Hebamme Anna

Es bringt Unglück, sagt Olai

Genau, Unglück, sagt die alte Anna

und Olai sieht die alte Anna schnell zur Kammer gehen und die Schüssel mit dem heißen Wasser hält sie mit ausgestreckten Armen vor sich und dann bleibt die Hebamme Anna vor der Tür zur Kammer stehen und sie dreht sich zu Olai um

Steh da nicht so rum, sagt die alte Anna

und Olai bekommt einen Schreck, bringt es etwa schon Unglück, wenn er nur hier steht? nein das kann ja wohl nicht sein und wenn es jetzt nur gut geht mit seiner höchst geachteten und geliebten Marta, seiner liebsten Marta, es muss einfach gut gehen ja auf jeden Fall

Mach die Küchentür zu Olai und setz dich auf deinen Stuhl ja, sagt die alte Anna

und Olai setzt sich ans Kopfende vom Küchentisch und er stützt die Ellbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hände und zum Glück hat er Magda heute zu seinem Bruder gebracht, denkt Olai, als er hingefahren ist, die alte Anna holen, ist er erst mit Magda bei seinem Bruder vorbeigerudert und eigentlich war er nicht sicher, ob das richtig war, denn die Magda ist jetzt ja auch bald eine erwachsene Frau, die Jahre vergehen so schnell, aber Marta hat ihn darum gebeten, wenn sie niederkommt und er losrudert, die alte Anna holen, dann soll er Magda mitnehmen und bei seinem Bruder lassen, bis die Geburt vorbei ist, sie ist noch zu jung, um so genau zu erfahren, was ihr als erwachsener Frau bevorsteht, hat Marta zu ihm gesagt und da hat er natürlich getan, was sie gesagt hat, obwohl er Magda jetzt so gern bei sich gehabt hätte, ein kluges und verständiges Mädchen ist sie gewesen, solange er zurückdenken kann, und so lieb und gut in ihrem Betragen, eine gute Tochter hat er, ja, denkt Olai, und eigentlich hatte es so ausgesehen, als wollte der Herrgott ihnen keine Kinder mehr schenken, denn Marta war nie wieder guter Hoffnung gewesen und die Jahre vergingen und mit der Zeit fügten sie sich und dachten, jetzt bekämen sie keine Kinder mehr, so war es eben, es war ihr Schicksal, sagten sie und dankten Gott dem Herrn, dass er ihnen Magda geschenkt hatte, denn wenn sie nicht mal diese Tochter bekommen hätten, nein dann wäre es einsam gewesen hier auf Holmen, der Insel, wo sie sich niedergelassen hatten, und das Haus hatte er selber gebaut und natürlich hatten seine Brüder und die Nachbarn geholfen, aber das meiste hatte er selber gemacht, und als er Marta freite, da hat