: Paul Lendvai
: Leben eines Grenzgängers Erinnerungen. Aufgezeichnet im Gespräch mit Zsófia Mihancsik
: Verlag Kremayr& Scheriau
: 9783218008709
: 1
: CHF 15.20
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Paul Lendvai blickt zurück auf ein aufregendes Leben zwischen Ost und West: Im Gespräch mit der renommierten ungarischen Journalistin Zsófia Mihancsik erzählt er von den Jahren der Verfolgung als jüdischer Jugendlicher im Budapest der Vierzigerjahre, vom Berufsverbot und der Internierung als 'politisch Unzuverlässiger' Anfang der Fünfzigerjahre in Ungarn und seiner aufregenden Flucht 1956 über Prag und Warschau nach Wien. Seinen beeindruckenden Weg zum international bekannten Journalisten und weltweit anerkannten Osteuropa-Experten, der in Österreich seine zweite Heimat gefunden hat, schildert er ebenso wie Anekdoten aus dem Arbeitsalltag eines politischen Journalisten. Zentrales Thema des Buches sind auch seine Ansichten und Einsichten über sein Vaterland Ungarn sowie die schockierende Verleumdungskampagne, mit der ihn heute ungarische Nationalisten wegen seiner schonungslosen Analyse in seinem letzten Ungarn-Buch attackieren. Darüber hinaus berichtet er, ohne etwas schönzureden, mit Humor und Selbstironie über persönliche Erlebnisse und erschütternde Begebenheiten in seiner Familie sowie über Privates, das bislang der Öffentlichkeit unbekannt war.

Paul Lendvai, international angesehener Publizist, Autor und Osteuropa-Experte, schrieb viele Jahre als Korrespondent für die Londoner Financial Times und zahlreiche österreichische, deutsche und Schweizer Blätter. Er war ab 1982 Chefredakteur der Osteuropa-Redaktion des ORF und ab 1987 Intendant von Radio Österreich international. Heute ist er weiterhin Mitherausgeber und Chefredakteur der von ihm gegründeten internationalen Zeitschrift Europäische Rundschau, Leiter des Europa-Studios des ORF und Kolumnist des Standard. Er hat 15 Bücher publiziert, viele davon Bestseller und in mehrere Sprachen übersetzt, und ist Träger zahlreicher Auszeichnungen.

Im knöchellangen Wintermantel


Wieso warst du im Westen von Anfang an so erfolgreich? Noch dazu so unglaublich schnell? 1957 bist du aus deiner Heimat nach Wien geflohen, hast in Rekordzeit nicht nur dein Auskommen, sondern auch eine beneidenswerte Beschäftigung gefunden, konntest fürösterreichische Zeitungen arbeiten, und auch für die Financial Timeshast du geschrieben. Aufgrund welcher Eigenschaften hast du es geschafft, dich in so kurzer Zeit an die ganz anderen Gegebenheiten im Westen anzupassen? Wieso gab es für dich von Anfang an die Möglichkeit, kreativ zu arbeiten, zuerst unter Decknamen und dann auch unter deinem eigenen Namen?

Vor allem hatte ich einfach Glück, viel Glück. Eine besondere Fügung des Schicksals war es schon, dass ich im Januar 1957 nach Warschau gelangt war, dort fanden nämlich Wahlen statt, und ich bin vielen wichtigen Vertretern der internationalen Presse begegnet. Polen spielte ja 1956 in Europa eine Vorreiterrolle, nicht nur wegen seiner aufmüpfigen Aktionen gegen die Diktatur, sondern auch im Kampf für mehr Pressefreiheit unter den Verhältnissen eines kommunistischen Regimes. Deshalb kamen 1957 aus Anlass der Wahl auch so viele bedeutende Vertreter unserer Zunft nach Warschau. Ich war damals Gast vonTrybuna Ludu, dem damals auch von Reformern geführten Zentralorgan der Kommunistischen Partei. Die Zeitung hat auch die Kosten für meinen Aufenthaltübernommen.

Galt die Einladung von Trybuna Lududir persönlich?

Ja, sie galt mir als einem Mitarbeiter der Budapester ZeitungEsti Hírlap. Endre Gömöri, mein bester Freund, war nämlich als Sonderkorrespondent des Ungarischen Rundfunks gerade in Polen, als am 23. Oktober 1956 in Budapest die Revolution ausbrach. Er hat den Fehler begangen, mit der ersten Rot-Kreuz-Maschine nach Budapest zurückzufliegen. Hätte er den ersten fahrplanmäßigen Flug abgewartet und wäre dadurch entsprechend später heimgekommen, so wäre er nicht Mitglied des Redaktionskomitees desFreien Senders Kossuth geworden und man hätte ihn nicht 1957 aus dem Rundfunk hinausgeworfen. Auf jeden Fall hatte er Verbindungen nach Polen und empfahl mich bei derTrybuna Ludu. So bekam ich Gelegenheit, eine Reihe polnischer, aber vor allem ausländischer Journalisten kennenzulernen.

Für mich waren die Gespräche, die ich dort führen konnte, in vielerlei Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Zum Beispiel mit Sydney Gruson, dem Berichterstatter derNew York Times für Osteuropa-Fragen, und auch mit seiner Frau, Flora Lewis, ebenfalls eine angesehene Journalistin, die später mehrere Bücher schrieb. Wir unterhielten unsüber die ungarische Revolution, und ich beklagte michüber das Verhalten der Vereinigten Staaten und Eisenhowers, also darüber, dass man uns etwas versprochen, dann aber nichts Konkretes getan habe. Worauf Gruson bemerkte, er habe Eisenhower schon immer für einen„stupid man“ gehalten. So hatte ich das noch nie gehört, und es imponierte mir mächtig, dass ein Journalist vom Zentralorgan des Imperialismus– dafür hielten wir in Ungarn nämlich dieNew York Times– gegenüber einem osteuropäischen Pressekollegen so zu reden wagte.

Diese Gespräche beeindruckten mich so sehr, dass sich für mich die Frage stellte, ob ichüberhaupt noch nach Budapest zurückkehren sollte. So kam es, dass ich nicht die Routeüber Prag nach Budapest wählte, sondern in Richtung Wien reiste. In Prag habe ich dann Flora Lewis nochmals getroffen. Sie lud mich zum Abendessen ein und erklärte mir an diesem Abend, ich solle mich nicht täuschen lassen und glauben, im Westen wären alle Menschen so nett und anständig, wie ich es erlebt hatte. Sie hielt mir vor Augen, dass im Westen ein harter Konkurrenzkampf herrschte und es nicht leicht sein würde, da auf die Beine zu kommen.

Du hattest ihr erzählt, dass du, wie es damals hieß, dissidieren, also Ungarn endgültig verlassen wolltest?

Ja. Ich hatte mich ja schon in Warschau entschieden, dass ich nicht mehr zurückkehren würde. Ich sparte die Spesen, die ich vonTrybuna Ludu bekam, damit ich michüber Wasser halten konnte, bis ich im Ausland Arbeit fände. Es war mein ganzes Vermögen, alles, was ich damals besaß.

Mein wertvollstes Stück war ein bis zu den Knöcheln reichender Wintermantel, den ich mir zu Hause gebraucht gekauft hatte und den man mir später auf meiner ersten Italien-Fahrt in Florenz aus dem offenen Auto gestohlen hat.

Aber um deine erste Frage zu beantworten: Eine meiner wichtigsten Fähigkeiten war schon damals, dass ich Verbindungen knüpfen und sie auch pflegen konnte. Ich bin nicht schüchtern, habe keine Hemmungen. Sobald ich in Wien war, rief ich einfach jeden an, von dem ich dachte, dass er mir vielleicht helfen könnte.

Waren das lauter neue Bekannte aus Warschau?

Ja. Schon in Warschau hatte ich in Erfahrung gebracht, welche Nachrichtenagenturen und Zeitungen es in Wien gab. Also begann ich, diese durchzutelefonieren, und dann führte der eine oder andere Kontakt zu weiteren Verbindungen.

Du hast ja in Budapest auch bei MTI, der Ungarischen Nachrichtenagentur, gearbeitet. Hattest du nicht schon dort Informationen darüber, wen man im Ausland, also speziell in Wien, ansprechen könnte und mit wem ein Kontakt lohnend wäre?