Einleitung zur zweiten Auflage »Macht« und »Markt« als Grundprinzipien organisierter Kriminalität: Zur Aktualität von Moderne Gewalten Peter Waldmann Die Herausgeber der Reihe »Mikropolitik der Gewalt« danken dem Campus Verlag für seine Bereitschaft, den vergriffenen Band von Ciro Krauthausen neu aufzulegen und in unsere Reihe aufzunehmen. Diese wird durch die vor rund 15 Jahren erstmals erschienene Studie wesentlich bereichert, handelt es sich doch um eine Thematik, die nichts von ihrer Aktualität verloren hat und zu der es keine jüngere deutschsprachige Publikation gibt, die sich methodisch, systematisch und in ihrer Gründlichkeit mit der Arbeit von Krauthausen messen könnte. Die Einleitung dient einem dreifachen Zweck. Zunächst sollen kurz die Vorzüge von Moderne Gewalten skizziert werden, die eine Neuauflage rechtfertigen. Zweitens sollen die Ergiebigkeit und Nützlichkeit einiger von Krauthausen herauspräparierter Ergebnisse und Unterscheidungen, vor allem die Differenzierung von »Macht« und »Markt« als bestimmende Prinzipien organisierter Kriminalität, anhand eines weiteren Beispiels - des Drogenhandels in Mexiko - untermauert werden. Die mexikanischen Rauschgiftkartelle haben inzwischen ihre kolumbianischen Konkurrenten als wichtigste Exporteure von lateinamerikanischem Kokain in die USA vom Markt verdrängt. Drittens wird erneut die alte Frage aufzuwerfen sein, was unternommen werden kann, um das Problem des illegalen Drogenschmuggels, samt den damit verbundenen unheilvollen Nebenfolgen (wie hohe Korruption, steigende Gewalt, politische Destabilisierung der in den Handel involvierten Länder) wenn schon nicht zu lösen, so doch wenigstens besser unter Kontrolle zu bekommen. I. Um die Qualitäten von Krauthausens Arbeit aufzuzeigen, bietet es sich an, zunächst auf einige Probleme aufmerksam zu machen, die er bei der Bearbeitung seiner Fragestellung zu bewältigen hatte. Da organisierte Kriminalität sich im illegalen Raum abspielt, ist die erste Frage die des Zugangs zu den einschlägigen Quellen. Krauthausen hat zwar keine direkten Kontakte zu italienischen Mafiosi und kolumbianischen Rauschgifthändlern geknüpft (was vermutlich gefährlich gewesen wäre), im Übrigen jedoch alle Informationsquellen ausgeschöpft, derer er habhaft werden konnte: Von Gesprächen mit Experten aus dem Polizeiapparat und der Justiz über die Auswertung von Gerichtsprotokollen und Presseartikeln bis hin zur Aufarbeitung der besonders im italienischen Fall reichlich vorhandenen Sekundärliteratur. Im Falle der italienischen Mafia standen in Form der Aussagen der »Pentiti« (das sind ehemalige Mafiamitglieder, die der Organisation den Rücken gekehrt haben) zudem Auskünfte aus erster Hand zur Verfügung; in Kolumbien, seiner ehemaligen Heimat, stützte sich der Autor verstärkt auf Interviews mit auf die Drogenproblematik spezialisierten Angehörigen der Sicherheitsbehörden. Alles in allem war es eine gewaltige Datenmenge, die erhoben wurde und die zu verarbeiten war. Dabei ist zu bedenken, dass die Untersuchung sich nicht nur auf zwei »Fälle«, den italienischen und den kolumbianischen, erstreckte, sondern jeder derselben wiederum in separat zu behandelnde Unterfälle zerfiel. Was Italien betrifft, so galt es zwischen der sizilianischen Cosa Nostra, der 'Ndrangheta Kalabriens und der Camorra in Kampanien mit dem Schwerpunkt Neapel zu differenzieren. In Kolumbien war der Rivalität zwischen den verschiedenen Rauschgiftkartellen, insbesondere den Kartellen von Medellín und Cali, Rechnung zu tragen. Die eingehende Beschäftigung mit den in Italien und Kolumbien operierenden kriminellen Organisationen setzte eine fließende Beherrschung beider Sprachen voraus. Ohne des Englischen mächtig zu sein lässt sich, wie ein Blick in das Literaturverzeichnis der Arbeit lehrt, die Thematik ohnehin nicht behandeln. Berücksichtigt man weiterhin, dass die Arbeit, die in einem sehr gewandten Deutsch geschrieben ist, am ethnologischen Institut in Berlin (bei Professor Georg Elwert) als Dissertation eingereicht wurde, so wird deutlich, dass der Verfasser vier Sprachen fließend beherrschen musste, um ein derartig anspruchsvolles, den üblichen Rahmen einer Doktorarbeit sprengendes Projekt angehen zu können. Darin dürfte zugleich die Erklärung dafür liegen, warum komparative Untersuchungen wie die von Krauthausen in Deutschland relativ dünn gesät sind (im angelsächsischen Sprachraum sieht es nicht besser, eher noch schlechter aus). Man kann dem Autor bestätigen, dass er die Aufgabe, der er sich gestellt hat, glänzend gemeistert hat. Das gilt nicht zuletzt für die von ihm angewandte Methode, den Vergleich. Beim Vergleichsverfahren, einem Instrument der qualitativen Sozialforschung, unterscheidet man, grob gesprochen, zwischen Ähnlichkeits- und Kontrastvergleichen. Krauthausen kombiniert in geschickter Weise beide Vorgehensweisen, indem er sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten zwischen italienischer Mafia und kolumbianischem Narcotráfico als Teiltypen der organisierten Kriminalität herausarbeitet. Dabei schwingen bei den Gemeinsamkeiten als Kontrastfolie stets die rechtsstaatlich geordneten Verhältnisse mit, wie sie der Verfasser in der Bundesrepublik Deutschland kennengelernt hat. Der Verfasser vermeidet vereinfachte Schemata bei der Einstufung der Fälle und scheut sich nicht, auf den vermischten Charakter der jeweiligen konkreten Situationen, die jedes simplifizierende Modelldenken Lügen strafen, hinzuweisen. Nicht von ungefähr ist im Text wiederholt von hybriden Strukturen und fließenden Übergängen die Rede. Zu den großen Vorzügen der Arbeit zählt, dass sie nicht bei den Organisationsstrukturen und dem engeren sozialen Umfeld der kriminellen Verbände stehenbleibt, sondern auch die gesellschaftlichen, historischen und politischen Bedingungen berücksichtigt, die diese Art von Kriminalität hervorgebracht haben und weiterhin tragen. Auf diese Weise ist ein Werk entstanden, das alle wesentlichen Aspekte des Phänomens anspricht. Man könnte es als eine Art Minihandbuch der organisierten Kriminalität bezeichnen, selbst wenn das Literaturverzeichnis nicht über das Jahr 1998 hinausreicht. Der Verfasser besticht nicht nur durch seine umfassende und profunde Kenntnis der Materie, sondern auch durch seine ausgewogenen, wohldurchdachten Urteile und die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen. Seine Einschätzungen haben im Laufe der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte nichts von ihrer Gültigkeit und Treffsicherheit verloren. Dies wird im nächsten Abschnitt anhand einiger konkreter Beispiele zu demonstrieren sein. An dieser Stelle ist noch auf eine Unterscheidung einzugehen, die das Buch wie ein roter Faden durchläuft und gewissermaßen die zentrale begriffliche Achse darstellt, um die herum die Untersuchungsergebnisse aufbereitet werden: die Unterscheidung zwischen »Macht« und »Markt« als handlungsbestimmende Leitprinzipien krimineller Organisationen. Das Machtprinzip wird durch die italienische Mafia verkörpert, dagegen wird der kolumbianische Drogenhandel dem Marktprinzip zugeordnet, doch das sind nur Grundorientierungen. Krauthausen sieht durchaus phasenbedingte Überschneidungen und partielle Übergänge zwischen beiden Strukturprinzipien, die jedoch deren prägende Kraft als solche unberührt lassen. Die Unterscheidung soll deutlich machen, dass illegalen Verbänden nicht ein einheitliches durch ihr Operieren im Untergrund diktiertes Organisationsprinzip zugrunde liegt, sondern ihr Aufbau je nach Zielsetzung und dadurch bedingtem Aktionsfeld variiert. Das Machtprinzip fungiert als Kürzel für die Erpressung von Geldern für den Schutz vor angeblichen oder tatsächlich drohenden Gefahren. Auf der Durchsetzung von Macht basierende Mafiaorganisationen breiten sich dort aus, wo die obrigkeitlichen Strukturen nur schwach ausgeprägt sind. Die fehlende Staatspräsenz gibt ihnen die Chance, einer Bevölkerung gegen regelmäßige Tributzahlungen ihren »Schutz« aufzudrängen. Wer nicht bereit ist, das Angebot zu akzeptieren, wird mit Zwang eines Besseren belehrt. Gewalt und Zwang bilden die Schlüsselressourcen von Mafiagruppen, sie sind als Drohung stets vorhanden, selbst wenn sie effektiv um ihre Abnützung zu vermeiden (von Ausnahmesituationen abgesehen) eher sparsam und selektiv eingesetzt werden. Mafiaverbände sind nach außen hin geschlossen und im Innern hierarchisch gegliedert. Sie habe klare Grenzen und Mitgliedschaftskriterien, wobei die Mitgliedschaft an bestimmte Aufnahmerituale und die daran geknüpfte Unterwerfung unter einen Satz spezifischer Normen und Regeln gebunden ist. Man könnte sie unter Verwendung eines in der neueren politischen Soziologie gebräuchlichen Begriffes als parastaatliche Organisationen bezeichnen; denn einem Pseudostaate gleich etablieren sie sich in bestimmten Gebieten (Territorialprinzip), bieten dort staatsähnliche Dienste an und stellen im Gegenzug staatsähnliche Ansprüche an die ihnen ausgelieferte Bevölkerung. Vor allem erheben sie von dieser steuerähnliche Abgaben und beanspruchen ihr gegenüber ein Zwangsmonopol. In der Tributerpressung liegt die Haupteinnahmequelle der Mafia, daneben setzt sie ihre Gewaltmittel auch ein, um sich als Unternehmer in der Konkurrenz mit anderen wirtschaftlichen Akteuren illegale Vorteile zu verschaffen. Auch bei den kolumbianischen Rauschgiftkartellen spielt der Einsatz von Killerkommandos eine gewisse Rolle, um säumige Vertragspartner zu bestrafen oder unsanft an getroffene Vereinbarungen zu erinnern (wie überhaupt Gewalt eine unverzichtbare Ressource für alle im Untergrund operierenden Gruppen darstellt, um sich Respekt in einem Umfeld zu verschaffen, in dem Vertrauen Mangelware ist und weder verbindliche Gesetze gelten noch Gerichte existieren). Die Anwendung physischen Zwangs ist aber nur eines von mehreren Mitteln, um das Hauptziel dieser Kartelle - die Maximierung des Gewinns aus dem Drogengeschäft - zu erreichen. Weit wichtiger dafür ist das lückenlose Ineinandergreifen der sukzessiven Teilprozesse, von denen der Gesamterfolg einer geschäftlichen Transaktion abhängt: beginnend mit dem Anbau des Kokastrauches, der Verarbeitung seiner Blätter in sukzessiven Stufen zu Kokain, dessen Transport zunächst innerhalb der nationalen Grenzen, dann über diese hinweg bis zum Hauptabnehmerland, den USA, wo ein nicht minder komplizierter Verteilungsprozess (vom Großhändler zum Kleindealer) einsetzt. Der Koordination der Teiletappen im Gesamtgeschäft kommt eine ähnlich eminente Bedeutung zu, wie der Verfügung über einen eigenen Machtbereich für Mafiagruppen. Diese Funktion übernehmen meist die Besitzer der Transportrouten. Eine eigene Route zu besitzen verschafft einem Kartell enormen Einfluss, bedeutet aber keineswegs, dass es Konkurrenten von deren Nutzung automatisch ausschließt. Im Drogenhandel bilden sich nur selten oligopolistische oder monopolistische Strukturen heraus. Im Regelfall wird er von einer Vielzahl lose strukturierter und netzartig miteinander verbundener Gruppen und Verbände betrieben, die alle danach trachten, ihr Risiko zu minimieren. Die größten Gewinne streichen logischerweise jene ein, die innerhalb des Gesamtprozesses die riskantesten Teiletappen zu bewältigen haben. Zu diesen zählt die Überwindung der Grenzen zu den USA als wichtigstem Konsumentenmarkt. So gesehen ist es verständlich, dass im kolumbianischen Fall die Organisationen von Medellín und Cali sowie einige andere, welche die Transportwege über die Karibik erschlossen, besonders hohe Gewinne erzielten und ihre Machtposition entsprechend ausbauen konnten. Soweit in geraffter Form die Gegenüberstellung von »Macht« und »Markt« als strukturprägende Prinzipien krimineller Verbände nach Krauthausen. Seine Untersuchung bezieht sich auf die 1980er und frühen 1990er Jahre. Inzwischen haben sich die Transportrouten für Kokain aus Südamerika in die USA unter dem wachsenden Kontrolldruck der US-Sicherheitskräfte vom karibischen Raum wegverlagert. Sie führen nun größtenteils über Zentralamerika und Mexiko, was zur Folge hat, dass den mexikanischen Kartellen zunehmend eine Schlüsselstellung in dem lukrativen Geschäft zuwuchs. |