: Jens Wietschorke
: Arbeiterfreunde Soziale Mission im dunklen Berlin 1911-1933
: Campus Verlag
: 9783593418803
: Campus Historische Studien
: 1
: CHF 39.00
:
: 20. Jahrhundert (bis 1945)
: German
: 451
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF
Im Oktober 1911 gingen bildungsbürgerliche Sozialreformer in die Arbeiterviertel im Osten Berlins: eine soziale Mission, in deren Mittelpunkt das Kennenlernen der Menschen und Verhältnisse im 'dunklen Berlin' stand. Sie wurde für ihre Teilnehmer zu einer 'Schule des wirklichen Lebens', in der sie Erfahrungen nachholen konnten, die ihnen ihre bürgerliche Sozialisation bislang vorenthalten hatte. Indem er die Begegnungen zwischen Bürgern und Arbeitern schildert, bietet Jens Wietschorke eine Mikrogeschichte der Klassengesellschaft in Kaiserreich und Weimarer Republik und leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis bildungsbürgerlicher Mentalitäten.

Jens Wietschorke, Dr. phil., ist Assistent am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien.
Einleitung

Bildungsbürger als 'Arbeiterfreunde': Thema und Fragestellungen

Diese Studie nimmt eine Gruppe aus Studenten, Theologen und Pädagogen in den Blick, die sich im Herbst 1911 daran machten, eine zugleich sichtbare und unsichtbare Demarkationslinie inmitten der eigenen Stadt zu überschreiten. Sie zogen auf die andere Seite der deutschen Hauptstadt, in das 'dunkle Berlin' um den Schlesischen Bahnhof, in die Straßen und Hinterhöfe zwischen Großer Frankfurter Straße und Spree, zwischen den Gleisanlagen der Ostbahn und der Markthalle in der Andreasstraße, um zu helfen und zu erziehen, um einen Lichtschein von 'wahrem Christentum' und einer besseren Welt in den Berliner Osten zu tragen - vor allem aber: um eine Realität kennenzulernen, die ihnen bis dahin vollkommen unbekannt geblieben war. Sie versuchten ein Alltagsleben zu verstehen, das sie bislang nur aus Elendsreportagen, Boulevardblättern und der Kriminalstatistik kannten. Sie versuchten Zugang zu einer Jugend zu finden, über die sie durch die Schriften von Ernst Floessel und Clemens Schultz, den Arbeiterfreund und die Innere Mission im Evangelischen Deutschland informiert waren und von der sie bislang nur wussten, dass sie als 'gefährdet und verwahrlost' galt - einer Jugend aus 'Halbstarken', 'Straßenjungen' und 'Herumtreibern', die nach dem Urteil der einschlägigen Literatur entweder zu Delinquenten oder zu Kommunisten werden mussten. Und trotzdem suchten sie im Berliner Osten auch den 'einfachen, bedeutenden Menschen', der sie aus den Beschränkungen ihrer eigenen bürgerlichen Herkunft und eines vorgezeichneten Akademikerlebens befreien würde. Damit waren sie 'Wanderer zwischen den Welten', die zugleich Vermittler zwischen den Welten sein wollten: zwischen Tiergartenviertel und Schlesischem Bahnhof, zwischen 'Gebildeten' und Arbeitern, zwischen bürgerlicher Kultur und proletarischem Alltag.

Diese Studie berichtet aber auch von einem weiten Kreis aus Politikern und Juristen, Professoren und Assessoren, Geheimräten und Geheimratswitwen, Landräten und Gutsbesitzern, Superintendenten und Verwaltungsbeamten, Publizisten und Kulturreformern, Musikern und Kunsterziehern, die die Arbeit der 'Siedler' finanziell wie ideell unterstützt haben. Viele von ihnen haben die berüchtigte Gegend um den Schlesischen Bahnhof nie selbst betreten, und doch sind sie Teil dieser außergewöhnlichen sozialen Initiative gewesen. Zumindest verbindet sie eines mit den social explorers des Berliner Ostens: Sie alle waren davon überzeugt, dass die inneren Brüche der wilhelminischen Gesellschaft nur durch eine neue, umfassende soziale Bewegung und neue Formen der Verständigung zwischen den alten Bildungseliten und der städtischen Arbeiterbevölkerung zu überwinden seien. Sie gehörten - mit wenigen Ausnahmen - derselben soziokulturellen Formation an: dem protestantisch geprägten deutschen Bildungsbürgertum der Übergangszeit zwischen spätem Kaiserreich und Weimarer Republik, das in diesem Zeitraum gravierende Abstiegserfahrungen und Legitimationskrisen zu bewältigen hatte. Die Expedition in den Berliner Osten hat ganz wesentlich mit diesen Erfahrungen zu tun. Denn in den Arbeiterquartieren des 'dunklen Berlin' suchten die 'Siedler' nicht nur 'the other half', sondern sie suchten vor allem sich selbst und ihre legitime Position in einer sich rapide modernisierenden, aber auch krisenanfälligen Gesellschaft.

Das deutsche Bildungsbürgertum des ersten Jahrhundertdrittels ist aus sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive mittlerweile relativ gut untersucht. Über die Bestandsaufnahmen des 'Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte' und des Bielefelder Sonderforschungsbereichs zur Geschichte des Bürgertums hinaus sind zahlreiche Studien erschienen, die sich in Überblicksdarstellungen oder anhand konkreter Gruppierungen, Vereine oder Institutionen mit der sozialen Lage und dem Selbstverständnis dieser - so Hans-Ulrich Wehler - 'einzigartigen Sozialformation unter den westlichen Modernisierungseliten' auseinandersetzen. Im Fokus vieler Arbeiten steht zwar das bildungsbürgerliche Engagement in Sozialreform und Kunstförderung, unterbelichtet geblieben ist dabei allerdings die konkrete Bedeutung des sozialen Engagements für seine Akteure. Das ist doppelt bedauerlich: Zum einen, weil die Diskussion dadurch weitgehend auf programmatische Entwürfe und ideengeschichtliche Linien beschränkt bleibt, zum anderen, weil das für das Verständnis der 'klassischen Moderne' so wichtige Verhältnis zwischen gebildetem Bürgertum und unterbürgerlichen Schichten nirgendwo so transparent wird wie in der Praxis sozialen Engagements. Die vorliegende Untersuchung möchte dazu beitragen, diese Forschungslücke zu verkleinern. Am Beispiel der 'Sozialen Arbeitsgemeinschaft

Inhalt6
Einleitung10
Bildungsbürger als »Arbeiterfreunde«: Thema und Fragestellungen10
Quellenmaterial, Forschungsstand und Konzeption der Untersuchung16
Methoden und Problemstellungen22
Zwischen Mikrogeschichte und historischer Ethnographie22
Kulturanalyse der Klassenbeziehungen und des Bildungsbürgertums28
Intellektuellengeschichte als Thema der Europäischen Ethnologie?34
1. Der Schauplatz Berlin-Ost37
Was nicht im Baedeker steht37
Stadtlandschaft und soziale Topographie41
Das »dunkle Berlin«: Symbolische Topographien48
2. Die Settlementbewegung in Berlin 1911–191454
Die Rezeption der Settlementbewegung in Deutschland54
Friedrich Siegmund-Schultze und sein soziales Experiment63
Das »Convikt«: Erste Jahre in der Friedenstraße69
Die »Frauenkolonie« in der Fruchtstraße78
Assoziationsformen: Der Kreis der »Mitarbeiter und Freunde«84
Netzwerke und Ressourcen89
Nahaufnahme I: Wenzel Holek als Symbolfigur der SAG97
3. Two Nations: Zur Gesellschaftsdiagnose der SAG107
Die Metapher der two nations107
»Das kirchliche Kleid abstreifen«111
Berliner Arbeiter und die Grenze der Respektabilität115
Von der Klassengesellschaft zur »Sozialen Arbeitsgemeinschaft«121
Stadt- und Landdiskurse in der SAG124
4. Soziale Mission und das Prinzip der Substitution129
Terra Incognita und Altruismus als Abenteuer129
Bürgerliche Kultur und soziale Mission136
Erich Kocke und das Rettungsparadigma140
Kaffeehalle und Festkultur: Substitution als Methode146
Mission, Gewissen und Persönlichkeit: Religiöse Kulturmuster153
5. Auf der Suche nach dem »wirklichen Leben«160
Die SAG als Erfahrungsproduktionsmodell160
Eine Generation des Unbedingten167
»The Imagination of Powerlessness«174
Der Arbeiter als »einfacher, bedeutender Mensch«180
»Mit zum Volk gehören!« Eine Studentin in der Schraubenfabrik185
Volksnähe als symbolische Ressource194
Nahaufnahme II: Johanna Fränkel und die »Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-West«201
6. Angewandte Sozialforschung im »dunklen Berlin«210
Die Verhältnisse kennenlernen210
Ethnographie der Arbeiterfreizeit: Die »Vergnügungskommission«218
Ordnungen des Vergnügens: Das Beispiel Kino225
Der Missionar als Feldforscher: Richard Lau229
Teilnehmende Beobachtung in der Fabrik236
Betriebsforschung und angewandte Sozialwissenschaften245
7. Der Führungsanspruch der Akademiker 1914–1922255
»Sozial-Soldaten«? Die SAG im Ersten Weltkrieg255
»Ver Sacrum«: Friedrich Bredt und Oskar von Unruh264
Kriegsende 1918: Masse und Führung272
Landadel in der SAG: Die Trieglaffer Konferenzen279
»Die Sprache der Höfe verstehen lernen«287
Integrative Führung als Programm297
8. Die Klubarbeit der SAG im Kontext der Jugendpflege304
Jugenddiskurs und Jugendpflege nach 1900304
»Geheime Miterzieher«: Die Straße als Gegenspieler314
Der Klub als zivilisierte Bande323
Gutsherrschaft als soziales Modell: Die Ferienfahrten330
Jugend als Problem und Jugend als Bewegung334
9. Der lange Abschied von der Mission 1922–1933341
Neue Klassenbezüge: Vom Sozialstudenten zum Werkstudenten341
Volksbildung als neue Leitidee351
Sozialismus und Christentum: Politische Neuorientierungen356
Lauenstein: Identitätssuche und sozialpolitisches Engagement360
Epilog: Die letzten sieben Jahre der Sozialen Arbeitsgemeinschaft369
Nahaufnahme III: Mennicke, Thadden und die Arbeiter: Ein Brief aus dem Jahr 1927378
10. Soziale Mission im »dunklen Berlin«: Eine Bilanz386
Die Logik der Metaphern: Die SAG zwischen 1911 und 1933386
Bildungsbürger und Arbeitermilieu: Eine Beziehungsgeschichte389
Von der Bildungselite zur »integrativen Elite«392
Emotionen und Interessen396
Quellen und Literatur402
Dank451