: Hinrich von Haaren
: Brandhagen Panorama einer kleinen Gesellschaft
: Luftschacht Verlag
: 9783902844347
: 1
: CHF 13.40
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: Erzählende Literatur
: German
: 296
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Brandhagen, ein norddeutsches Dorf in den späten 1960er und 1970er Jahren: Hier herrscht eine Welt der selbstzufriedenen Abgeschlossenheit, in der die Alteingesessenen das Sagen haben und sich mit stoischer Arroganz gegen jeden Einfluss von außen wehren. Der Ich-Erzähler wächst in einer Familie auf, die von exzentrischen Frauen regiert wird, der geliebten, aber tyrannischen Großmutter, der rechthaberischen Tante Alma, dem Hausmädchen Erdmute. Es ist eine Welt, in der die verblichene Bürgertradition gegen alle Zeitströmungen und gegen jeden wirtschaftlichen Abstieg hochgehalten wird. Doch mit der Rückkehr von Tante Lise und ihrem unehelichen Kind Krystina treten erste Risse in diese Fassade. Lise, die vor langem aus dem Haus getrieben wurde, stört die Familienharmonie. Mit ihr hält eine neue Welt in Brandhagen Einzug, die sich über die alte Moral hinwegsetzt. Hinrich von Haarens Entwicklungs- und Gesellschaftsroman steht stellvertretend für das, was wir alle erleben, wenn der Moment der Kindheit bricht: die erste Erfahrung des Betrugs, des Selbstbetrugs, der Trauer, des Schmerzes. Ein feinfühliges und mitreißendes Zeitporträt, das mittels dieser Grunderfahrungen über seine Zeit hinausweist.

Hinrich von Haaren, geb. 1964 in Bremerhaven, lebt in London. Er studierte Sinologie und Germanistik in Berlin. Seine Hörspiele wurden bei Radio Bremen und im Ostdeutschen Rundfunk gesendet, dessen Hörspielpreis er auch erhielt.

Kostüme


Frau Ilse Trautwein brachte nicht nur einen invaliden Mann mit nach Brandhagen, sondern auch die Religion. Sie übernahm nach den Sommerferien die Klasse 4a und führte als erstes das Morgengebet ein, das wir alle überschwänglich annahmen, glücklich über die Abwechslung und ohne zu wissen, was wir da jeden Tag vor dem Unterricht hinmurmelten. Die ordentlichen, fleißigen Mädchen wie Katrinka Höfer oder Birgit Katz, die Bienen, Arbeiterinnen, die Schwarm- und Schwärmerwesen, verfielen der neuen Lehrerin zuerst. Nach und nach aber folgte die ganze Klasse. Frau Trautwein, busenrund, älter wirkend als ihre 50 Jahre, mütterlich, fast großmütterlich mit Dutt, zeigte von der ersten Stunde an eine unbeugsame Persönlichkeit, die ihrem gemütlichen Äußeren zu widersprechen schien. Sie war eine Art selbsternannte Kinderführerin und in ihrer Mission, uns zum Licht der Erkenntnis zu führen, erfüllt von einer geradezu überwältigenden, ans Autoritäre grenzenden Aufrichtigkeit, die ihrer Hingabe an den Beruf und ihrer Hingabe an jeden einzelnen Schüler entsprang. Frau Trautwein war kinderlos und hatte uns, die Klasse 4a, zu ihren Kindern auf Zeit ernannt, auf die sie ihr ganzes pädagogisches Können, ihr Wohlwollen, ihre Gutmütigkeit und nicht zuletzt die strahlende Macht ihrer Frömmigkeit konzentrierte. Ein ähnliches Wesen hatten wir in Brandhagen nie gesehen. „Heute Morgen“, sagte sie mit Trauer und Mitgefühl vom Pult wie von einer Kanzel her, „habe ich vor dem Frühstück für Wieland Tiedemann gebetet, damit er seinen Kopf vom Unsinn befreit und Wahrheit, Fleiß und Pflicht einlässt.

Denn nur was wir wirklich aus tiefstem Herzen achten, hat Wert im Leben. Alles andere ist Eitelkeit. Darum wollen wir unsere Herzen öffnen und Gott, den Herrn, einlassen.“ Während ihrer Rede hielt Frau Trautwein die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt, und wir alle standen mit fest gefalteten Händen hinter unseren Bänken, um Gott inbrünstig um Fleiß oder Pflichtbewusstsein für Wieland Tiedemann zu bitten. Wir fühlten, wie unser Herz in der Brust zu wachsen begann, lauter und stärker schlug, mit ungewohnter Kraft, um sich von den alten, schlechten Gefühlen, diesen Wahrheitsdieben zu befreien. Wir hatten keine Ahnung, was genau diese schlechten Gefühle sein könnten oder was Frau Trautwein unter Wahrheit verstand (etwas Unbändiges, das unsere Herzen angriff?), doch mehr als alles andere beeindruckte uns, dass sie schon vor dem Frühstück betete. Statt den Tag mit Rechnen und Schreiben zu beginnen (Frau Trautwein hatte revolutionärerweise diese Fächer für „erst mal Nebensache“ erklärt), stand nun die Religion ganz oben auf dem Stundenplan. Die tägliche protestantische Unterweisung bestand darin, dass sie uns eine Geschichte aus dem Neuen Testament nacherzählte (oft mit dramatischen Ausschmückungen) und wir dazu ein begleitendes Bild in unsere Hefte malten. Diese Bilder waren Zeuge von Frau Trautweins Wortgewalt und schauspielerischer Kraft. Niemand konnte so gut die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählen wie sie. Meine Bilder, auf denen ein schlimm heimgesuchter Leprakranker am Wegesrand litt, während der engelshaarige Samariter ihn wundersam versorgte (ich hatte ihm einen kleinen roten Medizinkoffer beigegeben), waren das Werk einer neuen, mir bis dahin unbekannten Inspiration. Unter der blutrünstigen Zeichnung war ein Merkspruch zu lesen, den Frau Trautwein mit spitz aufsteigenden Buchstaben zu Beginn der Stunde an die Tafel geschrieben hatte: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Die Innigkeit des Erzählten und Gemalten wuchs schon bald in mir mit schillernderen Farben zu einer Frömmigkeit heran, deren wichtigstes Merkmal ein Frau Trautwein nachempfundener theatralischer Zug war. Nachmittags, allein in Hohengraben, spielte ich in ein altes Bettlaken gehüllt den barmherzi