: Ulrike Ulrich
: Hinter den Augen
: Luftschacht Verlag
: 9783902844088
: 1
: CHF 11.60
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: Erzählende Literatur
: German
: 128
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Frau unterzieht sich einer Untersuchung in einem Magnetresonanztomographen: Sie sieht verschwommen, ein möglicher Gehirntumor soll ausgeschlossen werden. In dieser knappen Stunde erzwungener Unbeweglichkeit auf sich selbst zurückgeworfen, schneiden ihre Gedanken analog zu den Aufnahmen des Gerätes quer durch ihr bisheriges Leben, legen Momente von Angst, Schuld und Liebe frei. Tom ist tot. Alma verheiratet. Steven im Fernsehen. Barto schläft sicher noch. Oder wartet er schon auf ihren Anruf? Vielleicht wäre er doch besser mitgekommen. Und ihr Vater? Wieso hat er diesen Satz fallen lassen, dass die Mutter ihn zurückgeholt habe? Was hat er damit gemeint? In sich überlagernden Schnittbildern untersucht Ulrike Ulrich in gewohnt genauer und mit feiner Ironie durchsetzter Sprache die Fragen nach Verantwortung und Schuld, nach Vergebung und Sinnhaftigkeit. Ihr kluger, sensibel gewobener Text wächst und verzweigt sich durch die Labyrinthe menschlicher Beziehungen zu einem tomographischen Roman über die Möglichkeit zur Veränderung.

Ulrike Ulrich, *1968 in Düsseldorf, lebt als freie Schriftstellerin in Zürich. In Wien hat sie bei der schule für dichtung gearbeitet. In Rom war sie am Istituto Svizzero zu Besuch. Der Lilly-Ronchetti-Preis hat ihr einen Aufenthalt in Paris beschert. In New York war sie an der Columbia University zu Gast. Überall dort und im Tessin hat sie Draussen um diese Zeit geschrieben, für das sie Werkbeiträge vom Kanton Zürich und der Pro Helvetia erhielt. Sie ist Herausgeberin von 60 Jahre Menschenrechte - 30 literarische Texte und gehört seit 2003 der Zürcher Literaturgruppe index an. Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Walter-Serner-Preis und Anerkennungspreisen der Stadt Zürich für ihre beiden Romane. www.ulrikeulrich.ch Titel bei Luftschacht: Draussen um diese Zeit (Erzählungen, 2015), Hinter den Augen (Roman, 2013), fern bleiben (Roman, 2010)

Ich kenne den Ablauf. Ich kenne das alles, wenigstens diesmal keine Kontrastflüssigkeit schlucken. Sie müsste ja gleich zu Kopf steigen. Wie Alkohol. Wenn Alkohol Tumorzellen für Gehirnzellen halten könnte. Und ich das für eine Routineuntersuchung. Haben sie ja gesagt. Draußen. Routineuntersuchung. Wieso darf ich nicht mit den Füßen wackeln, wenn sie meinen Kopf in Scheiben zerlegen? Wieso mussten sie mich überhaupt so weit hinein? Wollen sie sehen, ob ich ein Herz habe? Bloß weil mir alles verschwimmt. Bloß wegen der Augen. Verregnete Fenster. Und findet nicht alles Leben in Röhren statt? Der Lärm, den dieses Gerät macht. Zwischen Baustelle und Maschinengewehr. Aber auch irgendwie unterirdisch. Das muss ich verdrängt haben. Mein Bauch jetzt. Kann das Ergebnis verfälscht werden, weil mein Bauch rumort? Und wenn es wirklich ein Tumor ist. Was bleibt denn noch? Was bleibt denn noch, wenn es nicht die Augen. Wenn die Augen gesund. Dann muss ja das Hirn. Aus wie vielen Scheiben besteht es denn? Die Bilder. Werden sie bunt sein? Und der Tumor dann rot. Er müsse mich überweisen. Er müsse mich überweisen, hat der Augenarzt gesagt. Als ob es ihm leid täte. Als ob er bedaure, dass er selbst nichts gefunden hat. Dass er aufgeben musste. Mich ziehen lassen, mit guten Augen. Ich kann mir das nicht mal vorstellen. Dass die Bilder erst im Hirn verschwimmen. Dass sie da scharf hineinwandern und erst der Tumor die Grenzen verwischt. Aber da wäre nichts bunt. Nichts rot. Er wäre ein weißer Fleck. Ein weißer Fleck mit schlechten Werten. Immerhin ist niemand hier. Das würde ich nicht wollen, dass jemand mit mir in diesem Raum wäre. Schlimm genug, dass sie von außen in meinen Kopf schauen. Dass sie da draußen an einem Bildschirm sitzen und kontrollieren, ob ich mich auch nicht bewege und was mit den Bildern anzufangen ist. Vielleicht ruft gerade jemand: Tumor. Schau, da, hinter den Augen, ein Tumor, schon so groß, kein Wunder, dass sie nichts sehen kann. Ich bin froh, dass Barto nicht da ist. Was hätte er tun sollen? Er hätte mir nur immer gesagt, dass es keinen Grund gibt, sich Sorgen zu machen. Dass ich auch auf den ersten Augenarzt hätte hören können. Und dass es mehr als unwahrscheinlich ist. Und ich hätte nicht gewusst, ob er es zu mir oder zu sich sagt. Ob er wirklich so sicher. Über den Dingen. Ob meine Schwäche ihn stark sein lässt. Meine Angst. Wo ich doch überhaupt nur allein an meine Stärke herankomme. So allein wie jetzt. In einer Röhre. Unerreichbar. Außer für diesen Assistenzarzt. Eben noch die Stimme des Arztes über die Kopfhörer. Dass es losgehe. Wiederholt, dass es eine Stunde dauere. Eine knappe. Dass ich auch schlafen dürfe. Bloß nicht bewegen. Bloß bewegen darf ich mich nicht, in der Spule.