Kapitel 1:
24. September 2012
Der schützende halbdunkle Gang endete und Kain trat hinaus ins Licht. Sofort brach das Blitzlichtgewitter los und Kain schloss geblendet die Augen. Irgendjemand hatte ihm einen Aktendeckel in die Hand gedrückt, hinter dem er sich vor den neugierigen Blicken und den Kameras verbergen sollte. Aber er stand einfach nur da und ließ alles widerstandslos über sich ergehen. Ein Versteckspiel hätte ohnehin nichts genützt: Aufgrund der Berichterstattung der vergangenen Monate kannte jeder sein Gesicht.
Kain spürte, wie ihm von einem der Wachtmeister, die ihn in den Gerichtssaal geführt hatten, die Handschellen abgenommen wurden. Er schüttelte die Arme aus und nahm sich einen Moment Zeit, um sich umzusehen. Unmittelbar vor ihm drängte sich eine Meute aus etwa zwanzig Fotografen, Reportern und Journalisten, die ihn mit ihren riesigen Kameras gnadenlos abschossen, sich untereinander wüst beschimpften, wenn sie sich gegenseitig beim Kampf um die besten Bilder in die Quere kamen, und ihm pausenlos irgendwelche Fragen zuriefen. »Wie fühlen Sie sich?«, wollte eine blonde Frau von ihm wissen und rammte ihm dabei fast ihr Mikrofon unter das Kinn.
Kain wusste, dass sie ihn mit dieser scheinbar harmlosen Frage nur provozieren wollte. Wenn er mit »gut« antwortete, würden sie ihn als gefühlskalten Killer hinstellen, dem das Verschwinden seines Bruders nichts ausmachte, wenn er »schlecht« sagte, würden sie dies wahrscheinlich als Ausdruck eines schlechten Gewissens und Beweis seiner Schuld auslegen. Egal, was er erwiderte, er konnte nur verlieren.
Also versuchte Kain, die Journalisten zu ignorieren, und richtete seinen Blick nach rechts. Die Zuschauerbänke waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Kein Wunder, dachte er. Schließlich handelte es sich um den Sensationsprozess des Jahres, der alles bot, was sich die Öffentlichkeit von einem spektakulären Verfahren erhoffte: eine Anklage wegen Brudermordes, ein spurlos verschwundenes Opfer, eine reiche und angesehene Familie im Mittelpunkt des Geschehens. Kurzum: ein gefundenes Fressen für die Presse. Aus diesem Grund war Kain auch nicht sonderlich verwundert, dass er von allen Anwesenden angestarrt wurde wie die Hauptattraktion in einem Zirkus.
In der ersten Reihe der Zuschauer erkannte Kain seine Frau. Isabella war schon immer sehr schlank gewesen, aber durch den Stress der letzten Monate wirkte sie nun beinahe abgemagert. Er hatte Isabella vor neun Jahren bei einem Urlaub in Brasilien in einer Diskothek kennengelernt und sich sofort in sie verliebt. Ein Jahr später hatten sie gegen den Willen seines Vaters, der Zeter und Mordio geschrien hatte, in Deutschland geheiratet. Isabella war in einem Armenviertel in São Paulo aufgewachsen und sein Vater war fest davon überzeugt gewesen, dass sie es nur auf Kains Geld abgesehen hatte. Aber dieses Mal – dieseseine Mal – hatte er sich gegen seinen Vater durchgesetzt. Kain wusste zwar, dass sein Vater ihm die Wahl seiner Ehefrau noch immer nicht verziehen hatte und Isabella mied, wann immer es ihm möglich war, aber wenigstens gab Adam Wellershoff seit einigen Jahren Ruhe und erwähnte das Thema nicht mehr, wozu wahrscheinlich maßgeblich die Geburt seines Enkels Jonas beigetragen hatte.
Eigentlich sollte Isabella Wellershoff als Zeugin in dem Prozess aussagen, aber sie hatte schon vor Wochen unmissverständlich erklärt, dass s