: Elisabeth Reichart
: Die unsichtbare Fotografin
: Otto Müller Verlag
: 9783701361519
: 1
: CHF 15.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 294
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als Alice die Fotoapparate ihres Großvaters geschenkt bekommt, weiß sie, was sie will: Fotografin werden. Inzwischen zählt sie zu den Erfolgreichen der Branche und ist ständig unterwegs, reist von Shanghai nach Mailand, von Tokio nach New York, immer mit leichtem Gepäck. Einer von Bildern überfluteten Welt setzt Alice ihren eigenen Blick entgegen. Für sie zählt nur die Schönheit, sie allein will sie festhalten. Mit ihrem egomanischen Bruder Bob, einem Schriftsteller in der Krise, verbindet sie eine sehr enge Beziehung. Wo immer Alice ist, ist auch Bob, und wenn Bob einmal nicht da ist, ruft Alice nach ihm, obwohl die beiden die Welt sehr unterschiedlich wahrnehmen. Im Gegensatz zu Bob glaubt Alice weder an die Sprache noch wie James, ihrem großen Vorbild als Fotograf, an die verändernde Wirkung von Fotos. Politik interessiert sie nicht, doch verstörende Fotos konfrontieren sie damit und mit ihren eigenen Verunsicherungen, sobald sie nicht mehr in die Schönheit flüchten kann. Ihre Welt verengt sich mehr und mehr, aber Alice ist selbstsicher genug, sich nicht den aufgezwungenen Bedingungen zu unterwerfen, sondern erneut aufzubrechen ...

Elisabeth Reichart geboren 1953 in Steyregg/OÖ., Studium der Geschichte und Germanistik in Salzburg und Wien, längere Auslandsaufenthalte in Japan und den USA, lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Österreichischer Würdigungspreis für Literatur und Anton-Wildgans-Preis.

Shanghai

Verändertes Shanghai– jedes Mal sah ich eine andere Stadt, soweit etwas von ihr zu sehen war und sie nicht im Smog verschwunden blieb. Ich fotografierte die Veränderungen für ein Architekturmagazin, hatte es aufgegeben, meinen Weiterflug nach Japan im Voraus zu buchen. Auf mehr als diesiges Licht hatte ich nur vor drei Jahren gehofft, als ich staunend nach dem Himmel suchte, der sich nicht zeigen wollte. Mir gefielen die Aufnahmen der Wolkenkratzer, die im Smog verschwanden, besser als die im diesigen Licht, aber das Magazin war anderer Meinung, die Architekten wollten ihre nachgeahmten Gebäude sehen, die ohne sie mitten in die Zukunft hinein wuchsen. Nirgendwo sonst pulsierte das Leben so hektisch himmelwärts stürmend wie in dieser Stadt, die keine Zeit hat, ihre Toten zu begraben. Eine ungewöhnliche Bemerkung von Li bei meinem letzten Besuch, begleitet von einem Lächeln, das ich nicht deuten konnte.

Li erwartete mich am Flughafen, würde wieder für michübersetzen, wie bei all meinen Aufenthalten zuvor. Ich hatte mir Li nicht ausgesucht, er wurde mir von der Stadtregierung zugeteilt, eine großzügige Geste, die nur wenigen Besuchern gewährt wurde, betonte Li in unserem ersten Gespräch. Eine Fotografin braucht keinen Dolmetscher, hatte ich geantwortet und Li in Verdacht, nicht nur mein Dolmetscher zu sein. Das Lächeln begleitete inzwischen alle seine Sätze, hatte sich im Gesicht festgesetzt, wo zuvor dieÜberzeugungen die Haut spannten. Li ist so alt wie ich, doch das hatte unsere Unterhaltungen nicht erleichtert. Er hatte sich einfach abgewandt, sobald ich unangenehme Fragen stellte, oder mich scharf zurecht gewiesen, indem er die Weisheit der Partei betonte. Mit schneidender Arroganz hatte er manchmal hinzugefügt, ob ich etwa glaube mehr zu wissen als die Partei, und ich hatte es aufgegeben, ihn etwas zu fragen, wollte nicht vor einer menschlichen Stimme erschrecken, noch dazu vor einer, auf die ich dank großzügiger Entscheidung angewiesen, die meine zweite Stimme in diesem Land war.

Der Smog war dichter als je zuvor. Nichts wies darauf hin, dass ich in Shanghai war, ich könnte ebenso gut in Peking sein oder in einer beliebigen anderen chinesischen Boomtown. Lachend fragte ich Li, ob wir wirklich in Shanghai seien, und warüberrascht von seiner Antwort: Nein, keine Spur, alle Sicherheiten seien auf den Mond ausgewandert, aber sie würden bald woanders hinziehen, wenn der Verkehr im Weltraum weiterhin so zunehme.

Ob denn die Beschwerden der Mondfrau nicht gehört würden, fragte ich zurück, und wir kicherten vor uns hin, während Li meinte, die Beschwerdekommission sei kollabiert unter dem Mondgestein, das die Mondfrau geschickt habe.

Wir sprachen Englisch, der Taxifahrer hatte mich zwar mit einer auswendig gelernten Begrüßungsformel willkommen geheißen, aber die wenigen Worte fielen ihm so schwer, dass ich sicher war, er würde uns nicht verstehen. Trotzdem wollte ich Li nicht wieder fragen, warum die Bewohner diesen Smog hinnahmen oder die Regierung das unbedingte Bedürfnis verspürte, alles unter Smog zu begraben. Die Fahrt wurde immer langsamer, bis wir nur noch standen. Neben dem Taxi ging ein Mann vorbei, der zwei Schweine an der Leine führte, die in roten Jacken steckten und Federhüte trugen. Ich hatte selten eine so komische Gruppe auf einer Straße gesehen. Welch ein mutiger Protest, flüsterte ich, um Li die Chance zu geben, mich einfach nicht zu hören. Ich fotografierte sie so, dass das Gesicht des Mannes nicht erkennbar war. Die Vorstellung, jemanden durch meine Fotos zu gefährden, hatte mir während meines ersten Aufenthalts hier schlaflose Nächte verursacht. Immer wieder war ich hochgeschreckt, hatte Fotos am Computer gelöscht, aus Angst, jemand könnte sie w&a