: Andrea Grill
: Zweischritt
: Otto Müller Verlag
: 9783701361250
: 1
: CHF 13.30
:
: Erzählende Literatur
: German
: 263
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die schönsten Städte ihrer Welt sind jene, die sie kaum gesehen hat. Die Ich-Erzählerin reist viel von Berufs wegen. Sie ist Wissenschaftlerin, jagt in den verschiedensten Regionen der Welt nach Eichhörnchen, denen sie Haarbüschel ausreißt, um DNA-Sequenzen zu erstellen und daraus die Landkarte der genetischen Vielfalt zu zeichnen. Als wir ihr begegnen, fliegt sie nach Brasilien. Neben ihr sitzt Moor. Wie die Städte, die sie begeistern, weil sie sofort wieder abreisen muss, fühlt sie sich zu ihm hingezogen - weil sie ihn nicht kennt und auch nicht kennen zu lernen vorhat. 'Alle suchten etwas, das sie Liebe nannten. Niemand, den ich kannte, wusste, was es war. Wer sie fand, sprach nicht darüber', sagt sie. Ihre Gedanken gehen immer wieder zu Moor, spielen damit, ihn noch einmal zu treffen - oder wandern zu dem Freund, den sie immer wieder in einer bestimmten Stadt sieht. Ist das wirklich ein anderer? Der Text gleitet frei zwischen Erlebtem, Geträumten, Dialog und Erzählung, führt uns Möglichkeiten vor, die 'immer wunderbarer sind, als man vermutet, und zugleich bis ins Detail vorhersagbar'.

Andrea Grill geboren 1975 in Bad Ischl, studierte u.a. in Salzburg und Thessaloniki und promovierte an der Universität Amsterdam über die Evolution endemischer Schmetterlinge Sardiniens. Sie schreibt Romane, Erzählungen und Gedichte, arbeitet als Übersetzerin aus dem Albanischen und veröffentlicht in Zeitungen und Zeitschriften. Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, so den Förderpreis der Stadt Salzburg 2010, den Otto Stoessl-Preis 2010 sowie den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2011. Nach Aufenthalten in Tirana, Cagliari (Sardinien), Neuchatel, Bologna und New York lebt sie in Wien.

2 AM TAG bevor ich das Flugzeug bestieg, war ich seit Monaten wieder einmal in der Stadt gewesen, aus der ich gerade abflog. Eine Stadt, die ich gut kannte, oft besuchte, aber trotzdem nicht meine Stadt nannte. Um welche Stadt es sich handelte, ist belanglos. Nennen wir sie Mokum. Nach einer gewissen Zeit, wenn man eine gewisse Anzahl von ihnen gesehen hat, gleichen sie einander alle. Wie sich auch alle Menschen gleichen, in all ihrer Verschiedenheit.„Egal, welche Sprache sie sprechen, werden ihre Worte doch wieder eine anders klingende Version desselben sein.“ Das waren seine Worte gewesen. Es käme auf die Art zu schauen an, zum Beispiel, ob man auf oder unter dem Tisch säße, während man Ausschau hielte. Das waren meine.„Du stiehlst den Leuten die Worte aus dem Mund“, sagte er.„Natürlich“, erwiderte ich,„da kommen sie her.“ Ohne Münder gäbe es sie gar nicht.

Die schönsten Städte der Welt sind jene, die ich kaum gesehen habe. Die, in denen ich gerade lange genug gewesen bin, ihre Umrisse auszunehmen. Den Schatten, den sie auf die nächstliegenden Hügel werfen, auf die daran anschließenden Seen und Meere.

Einen ihrer Gerüche um die Mittagszeit.

Einen Windhauch, der Bäume zum Schweben brachte.

Einen Ball, der einen Strauch Blüten regnen ließ.

Eine Stadt, in der man ankommt, wenn es Frühling ist und die Bäume blühen, ist wie ein Mensch, der einem zufällig begegnet und einige bemerkenswerte Worte sagt, einen festen Händedruck hat, einen zarten Atem. Ein Mensch, der mir alles verspricht, weil ich nicht mehr von ihm weiß, als was ich sehe, fühle und höre; ein Mensch, der mir noch alles werden kann. Jemand, von dem ich gerade genug kenne, um zu bemerken, dass ich ihn mag, doch zu wenig, um zu wissen, dass er Mundgeruch hat und schnarcht, wenn er Bier trinkt. Jemand, der einem ein Geliebter werden könnte, begegnete man ihm nochmals. Jemand, der ein Geliebter wird, weil ich ihm niemals mehr begegne, seinen Namen nur halb verstehe und mich schäme nachzufragen. Jemand, der riecht, als hätte er sich gerade erst gewaschen und mit Sonnenstrahlen eingeölt. Jemand, dessen Armbewegung mir gefällt, seine Art, das Hemd aufzukrempeln an denÄrmeln. Wie die Ellbogen aus dem Stoff ragen und an den Handgelenken feine Haare ihre Wuchsrichtungändern.

In den kurzen Schatten um die Mittagszeit, unter einem Himmel, der blau genug ist, um Hintergrund zu sein für Bilder, die mir in den Augen schwimmen, während ich am Rücken liege und nach oben starre, deutet eine unbekannte Stadt ihre Geheimnisse an, doch gibt sie nicht preis. Sie verspricht, was sie nicht halten muss, bekommt den Bonus des Flüchtigen, Vergänglichen. Museen, die Fassaden bleiben, weil ich sie nur von draußen sehe, verwandeln sich in viel versprechende Grotten voll wunderbarer Schätze. Restaurants, an deren gedeckten Tischen ich, einen Apfel aus der Hand kauend, nur vorbeigeeilt bin, werden zu himmlischen Tempeln voll herrlichster Speisen, während in den Fenstern der Läden bunte Stoffe und extravagante Plattenhüllen mit unverständlichen Aufdrucken Gegenstände zu sein scheinen, die ich immer haben wollte.

Am Vortag, kaum in Mokum angekommen, hatte ich ihn gesehen, ihn, den ich immer sah, wenn ich hierher kam. Er küsste eine Frau auf den Mund. Ich nehme nicht an, dass es seine Schwester war. Seit ich eines Tages beiläufig verkündet hatte, dass man in dieser Stadt nie jemanden zufällig träfe, den man kannte, dass diese Stadt glücklicherweise gerade die richtige Größe hätte, weil man sie gerade noch zu Fuß durchqueren könne, ohne sich aber fortwährend von bekannten Gesichtern beobachtet zu fühlen, traf ich ihn ständig. Oft saß er auf dem Fahrrad und fuhr so langsam, dass ich ihn wederüberholen, noch hinter ihm herfahren konnte. Ich kannte wenige Leute, hinter denen herzufahren lästiger war. Ich fü