: Elisabeth Reichart
: Nachtmär
: Otto Müller Verlag
: 9783701359134
: 1
: CHF 15.80
:
: Erzählende Literatur
: German
: 247
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Elisabeth Reicharts Roman 'Nachtmär' erzählt mit Ironie von Möglichkeiten und Grenzen des Miteinanderlebens von Juden und Nichtjuden im Schatten der Geschichte, die sie nicht erleben mussten. In Wien der Gegenwart fliehen zwei Frauen und zwei Männer vor ihrem Jahresfest in ihr alltägliches Unglück, um Esther auszuweichen, einer Jüdin, mit der sie jahrelang zusammen waren und die sie bei der erstbesten Gelegenheit verraten haben.

Elisabeth Reichart, geboren 1953 in Steyregg/ Oberösterreich, studierte Geschichte und Germanistik in Salzburg und Wien. Dissertation im Fach Geschichte zum Thema 'Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Salzkammergut'. Nach längeren Aufenthalten in Japan und den USA, lebt Elisabeth Reichart heute als freie Schriftstellerin in Wien. Für ihre literarischen Arbeiten erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, den Anton-Wildgans-Preis und den Oberösterreichischen Landeskulturpreis.

Endlich hatte es Ingram geschafft, wieder auf seinen Füßen zu stehen. Von oben betrachtet, hatten die beiden sich nicht verändert. Seinem Bedürfnis, sich bei ihnen anzuhalten, während er aufstand, hatte er nicht nachgegeben. Jetzt bereute er es, stolperte theatralisch gegen sie, zu theatralisch, dachte er im selben Moment, in dem sie vor ihm zurückzuckten, ihm jedoch freundlich zunickten, bevor sie Hand in Hand in ihrer Wohnung verschwunden waren, die sie sich ihren Bedürfnissen entsprechend umgebaut hatten, bis sie endlich jede Klinke, jeden Wasserhahn und Lichtschalter ohne Stockerl erreichen konnten, hatte ihm der Zwerg, verborgen hinter seinem Zigarillorauch, einmal zugeflüstert, dieser fehlende Zigarillorauch im Stiegenhaus war ihm zuerst aufgefallen, seitdem lauschte er öfter an ihrer Tür, ertappte er sich dabei, wie er am Schlüsselloch herumschnüffelte. Zu klopfen wagte er nicht, ging nur, von Tag zu Tag ratloser werdend, weiter.

Ingram suchte nach einem Zettel. Eine Zeitungsnotiz über das erste außerhalb einer Gebärmutter gezüchtete Schaf, die er vor Jahren ausgeschnitten und eingerahmt hatte und seither von Motten anfressen und vergilben ließ, erwies sich als einziges Schnipsel. Der Rahmen färbte ab, schickte Schiefern als Boten aus, vereinzelte Blutstropfen, viel würde er mit diesen kärglichen Essenzen nicht schreiben können, wußte auch nicht, welche Botschaft er seiner Großmutter hinterlassen sollte, unsicher, ob sie log oder wirklich glaubte, in den nächsten Stunden zu sterben.

Für ihn war es Zeit aufzubrechen. Marlens elektrochemischen Gehirnhaushalt würde er, sollte er ihr keine