Freitag, 12 Uhr
Der Nachmittag, an dem meine Cousine Ginie verschwand, war heiß.
Zwei Monate hatte es nicht mehr geregnet. Felder, Wiesen, Pferdekoppeln – alles war bräunlich verfärbt und knochentrocken und der Lokalsender des Münsterlands warnte vor Waldbrandgefahr. Seit Tagen hatten wir in der Schule nach der vierten Stunde hitzefrei, aber es freute sich kaum noch jemand darüber, schon um zehn kletterte das Thermometer in tropische Höhen.
Ginie und ihr Vater waren vormittags angekommen, als ich noch in der Schule war. In Berlin hatten sie bereits vor zwei Wochen Sommerferien bekommen, die meisten Bundesländer waren dieses Jahr früher dran als wir und ich fand es ungerecht, immer noch in stickigen Flachbauten sitzen und schwitzen zu müssen.
Auch wäre ich gern dabei gewesen, als meine Eltern unseren Besuch begrüßten und Ginie unser schnuckeliges backsteinrotes Häuschen zeigten. Stattdessen rutschte ich auf meinem klebrigen Plastikdrehstuhl im Biofachraum hin und her und ärgerte mich mit meiner besten Freundin Steffi über meine Mitschülerinnen, die meinten, unseren braun gebrannten Biolehrer kurz vor der Notenvergabe durch hautenge und extrem weit ausgeschnittene Fummel beeindrucken zu können. Yasmin hatte sich sogar in ein lila Paillettenkleid gezwängt, kein Wunder, bei ihr ging es um die Schuljahresversetzung . . .
»Leila macht geiler«, knurrte Steffi wütend. »Warum strenge ich Blöde mich eigentlich an und mache regelmäßig meine Hausaufgaben, wenn andere durch ein bisschen Wimperntusche-Auflegen und Busen-Zeigen auch zum Ziel kommen?«
»Mach dir nichts draus, Steffi. Ich finde, Yasmin sieht aus wie die Wurst in der Pelle. Eine Wurst, deren Verfallsdatum abgelaufen ist, sie ist ja schon ganz lila.«
Steffi stieß mich an und kicherte.
»Wirklich«, sagte ich, »das Kleid passt ihr überhaupt nicht, betont viel zu sehr ihre Speckröllchen. Guck mal, man kann sie richtig zählen, fünf kleine Fleischwurströllchen.«
Steffi fiel fast vom Stuhl vor Lachen. »Zeig da nicht so hin, Annika!«
»Wieso denn nicht?« Ich musste auch lachen und fing mir natürlich einen bösen Blick von Yasmin ein, aber das war mir egal. Wie viele andere Mitschüler auch hielt sie mich wegen meiner guten Noten sowieso für eine Streberin oder zumindest für einen Menschen vom andern Stern. Oft genug hatten Yasmin und die anderen mich das spüren lassen und ich war froh, dass ich wenigstens Steffi in meiner Klasse hatte. Meine Freundin hatte das gleiche Problem wie ich, sie galt auch als »extrem uncool«: schlau, still, ungepierct, ohne älteren Freund mit Auto und zu allem Unglück auch noch Nichtraucherin.
Ich sehnte mich wirklich nach den Ferien und ich freute mich auf meine gleichaltrige Cousine Ginie. Zwar kannte ich Ginie so gut wie gar nicht, aber ich fand die Idee trotzdem toll, dass sie und mein Onkel demnächst zu uns ziehen wollten. Sie sollte den neu ausgebauten Dachboden bekommen, er die kleine Einliegerwohnung im Erdgeschoss, in der mein Opa bis zu seinem Tod im Winter gelebt hatte. Natürlich würde es enger werden in unserem Haus, aber bestimmt auch lustiger.
Zumindest hoffte ich das. Sicher konnte ich mir nicht sein. Was, wenn Ginie mich genau wie Yasmin für eine Streberin hielt? Wenn sie es genau wie Yasmin gewohnt war, von einem älteren Freund mit getuntem Auto und leistungsstarker Stereoanlage von der Schule abgeholt zu werden, während Steffi und ich brav wie zwei Landeier auf unsere Dreigang-Hollan