: Friedrich Christian Delius
: Mein Jahr als Mörder
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644113718
: Delius: Werkausgabe in Einzelbänden
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Roman über deutsche Kriegs- und Nachkriegsgeschichte: ernsthaft, engagiert, bewegend Am Nikolaustag 1968 hört ein Berliner Student im Radio, dass Hans-Joachim Rehse, Richter an Freislers Volksgerichtshof, freigesprochen wurde. Noch während die Nachrichten laufen, beschließt er, ein Zeichen zu setzen: Er wird diesen Mann umbringen. Auch aus persönlichen Gründen, denn Rehse hat den Vater seines besten Freundes zum Tode verurteilt, Georg Groscurth - Arzt von Rudolf Heß und zugleich als Widerstandskämpfer aktiv. Die Tatbereitschaft des jungen Mannes wächst, je mehr er sich mit der Familiengeschichte beschäftigt. Besonders empört ihn das Schicksal von Groscurths Witwe Anneliese, die nach 1945 zwischen die Fronten des Kalten Krieges geriet. Dass ein ehemaliger Nazi ungeschoren davonkommt, während die Witwe seines Opfers als kommunistische Hexe juristisch verfolgt wird, ruft nach Vergeltung. Ohne Rücksicht mehr auf Studium, auf pazifistische Ideale oder seine Freundin Catherine setzt er Schritt für Schritt einen ausgeklügelten Plan um ... «Unbedingt lesen!» (Sigrid Löffler, Literaturen)

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

Langer Samstag


Vor dem Schöneberger Rathaus stand ein riesiger Weihnachtsbaum, auf der linken Seite mit Plakaten von Davidsternen und auf der andern mit Mao-Tse-tung-Bildern geschmückt. Niemand lachte über das Bild, ich auch nicht: ein christlicher Altar mit jüdischen und kommunistischen Seitenflügeln. Darüber schwebte der heilige Geist von John F. Kennedy, der hier fünf Jahre zuvor seinen berühmten Satz gesprochen hatte, urbi et orbi. Vor dieser Kulisse war ein bunter Haufen, höchstens dreitausend Menschen, zum Protest gegen das Urteil für R. versammelt.

Wenn viele Leute sich zeigen bei der Demonstration, hatte ich überlegt und mich bei Rousseau für zwei Stunden beurlaubt, macht das Eindruck in der Welt: Die Deutschen nehmen den Freispruch für ihre Freislers nicht hin. Mit dem Gang auf die Straße hoffte ich meinen Frieden am Schreibtisch zu erkaufen: Lass ab von R.! Eine Woche Chaos im Kopf reicht!

Im Karton mit den alten Papieren hat sich ein Flugblatt dieses Tages erhalten:Jetzt reicht es uns! Wir fordern die vier SiegermächteUSA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich auf, ihre Besatzungsrechte in Westberlin wieder unmittelbar auszuüben, um die Durchführung der Beschlüsse von Jalta und Potsdam zu sichern. Diese Abkommen schreiben zwingend vor, daß der Nazismus in Deutschland mit der Wurzel auszurotten ist. Wir fordern von den Besatzungsmächten: Macht endlich Ernst damit!

Unter dem Weihnachtsbaum Beate Klarsfeld, zum Star geworden durch die Ohrfeige gegen den richtigen Mann am richtigen Ort. Sie erinnerte an eine Krankenschwester, sie redete ohne wilde Phrasen und vertrat einen entschiedenen Antinazismus. Sie war schlecht zu verstehen. Der Senat hatte den Veranstaltern jede technische Hilfe verweigert, Lautsprecheranlage und Stromanschluss gesperrt, man musste sich mit kaum verstärkten Stimmen begnügen, auch die Kerzen im Baum leuchteten nicht. Einen Satz habe ich behalten:Jeder wird allein seinen Kampf zu führen haben. Beifall gab es dafür nicht, eher Pfiffe, es war keine gute Zeit für Einzelkämpfer. In den folgenden Wochen wollte ich mir einbilden, Frau Klarsfeld habe den Satz nur für sich und für mich gesprochen.

Das Schwierigste an diesem Nachmittag war, den richtigen Platz zu finden und nicht mit einer unsympathischen Gruppe identifiziert zu werden – das waren die meisten. Ganz vorn wäre es mir am liebsten gewesen, bei den Studenten mit den Davidsternen und Beate Klarsfeld. Nach ihrer Rede hatte ich einen Moment lang den Impuls, zu ihr zu laufen und zu gratulieren, aber natürlich traute ich mich nicht. Bei den Hauptleuten desSDS störte mich das wichtigtuerische Gehabe. Noch weniger passten mir die von Ostberlin gefütterten Westberliner Kommunisten, die wieder einmal dieAntifaschistische Aktionseinheit forderten. Blass und brav waren sie mit vielen hundert älteren Leuten aufmarschiert, das Urteil bestätigte ihr Bild der Bundesrepublik:Für die Henker Staatspension, für die Opfer neuer Hohn! Sie verteidigten den Terror der Russen gegen die Tschechen, auch deshalb mied ich sie.

Am meisten stießen mich die jungen Maoisten ab, die sich Rote Garde nannten, im zackigen Chor «Mao Tse-tung!» brüllten und Maos Bild in die Luft reckten. An langen Holzstäben hielten sie die Plakate in die Luft, überall das gleiche überlebensgroße Foto mit dem milden Propagandalächeln des Chinesen. Das einzige Bild, das am Tag des Protests gegen die Freispruch-Richter gezeigt wurde, hundertfach, das regte mich auf. Mit den Nazirichtern und ihren Opfern hatte der oberste Chinese nichts, gar nichts zu tun. Er wischte sie nur weg mit seinem autoritären Blick, er verhöhnte sie mit seinem Lächeln, er half beim Verdrängen. Die uniformen Bilder des Vorsitzenden aus Peking schlugen, so empfand ich das, die Widerstandskämpfer noch einmal tot.

Wenigstens einem der Mao-Jünger die Mao-Monstranz zu entreißen, war ich zu feige, ich dachte nur: Warum zeigen wir keine Bilder der Männer und Frauen, die R. mit seinen Urteilen hat hängen, erschießen oder unters